1 1/2 Jahren nach dem Aufsatz “Abstrakt und Konkret” erschien in der Dialektik-Liste eine andere Mail zu dem Thema, die hier, ergänzend zu den Ausführungen oben, beantwortet wird:

Die These Hegels, dass “das Abstrakte das Einfachere ist”

Zur Beurteilung dieses Spruches kommt es darauf an, was unter abstrakt und was unter einfach zu verstehen ist.

Ich wies oben daraufhin, dass Hegel abstrahieren im Sinne lateinisch: abstrahre=wegziehen, weglassen benutzt.

Dabei kommt es dann darauf an, inwiefern das Wesentliche übrig bleibt oder irgendetwas Unbedeutendes (Siehe auch mein kleines Essay zumBegriff).

Eine Abstraktion, die wesentliches weg lässt (Beispielsweise: eine Rose wird “bestimmt” als “ein Ding” oder “etwas Rotes”) ist in seinem Sinne eine schlechte Abstraktion (oder manchmal, wenn der Zusammenhang klar ist, auch manchmal nur als Abstraktion (mit unterstellter schlechten Beurteilung von Abstraktion) gebrandmarkt. Bestes Beispiel hierfür ist Hegels berühmter Aufsatz “Wer denkt abstrakt”. In der Suhrkampausgabe findet er sich in Band 2 (stw 602), Seite 575-581.

Eine “gute”, “richtige” Abstraktion hingegen, wäre in Hegels Terminologie ein Begriff (siehe mein Essay).

Dabei versuche ich bei der Interpretation von Hegels Werken immer zuerst einmal aus dem Zusammenhang festzustellen, ob Hegel gerade seine eigene Terminologie gebraucht, oder die Terminologie seiner Zuhörer (bzw. den landläufigen Gebrauch).

Im vorliegenden Satz “Das Abstrakte ist das Einfache” erscheint mir jedenfalls recht banal gemeint zu sein, dass, da im abstrakten etwas weggelassen ist, dieses also weniger Inhalt hat, es also weniger dabei zu lernen gibt, es weniger umfangreich ist. (Das wird ja auch aus dem Kontext klar, in dem er bei seiner Argumentation in die selbe Richtung weist).

Hegel erwähnt dabei auch selbst, dass das Abstrakte als weiter entfernt von den Sinnen und der Vorstellung natürlich das Ungewohntere ist, das erst zu lernen ist, also das er keineswegs “einfach” im Sinne von “ohne Anstrengung erlernbar” meint.

findet sich in den Nürnberger und Heidelberger Schriften auf S. 414 oben (Werke 4).<

Danke für die genauen Angaben. Ein- zu unrecht! - relativ wenig gelesener Band der Hegel Werke. Dabei sind gerade seine Vorlesungen auf dem Nürnberger Melanchthon Gymnasium sehr aufschlussreich. Und natürlich auch die Briefe an seinen Freund und Vorgesetzten Niethammer. Das erwähnte Zitat steht in dem sehr interessanten Privatgutachten von Hegel an Niethammer zum Philosophieunterricht an den Schulen, in dem Hegel darauf eingeht, wie er Philosophie unterrichtet.

Das Gutachten stammt aus dem Jahre 1812, also dem Jahr der Drucklegung des 1.Teils von Hegels Logik, der Lehre vom Sein. Das Gutachten ist in vielerlei Hinsicht lesenswert, es enthält u.a. eine ganze Reihe von wichtigen Themen der hegelschen Philosophie, etwa die Unterscheidung des Denkens in die drei Stufen Verstand, Dialektik, Spekulation, oder auch die von dir angesprochenen Fragen, die in der Tat zu den wichtigsten / interessantesten Themen des Gutachtens gehören:

Auf der S. 413 schreibt er “Abstrakt lernt man denken, durch abstraktes Denken.”

Eigentlich banal, i.S. von schwimmen lernt man beim schwimmen, essen beim essen usw. Wie auch sonst? Also, wogegen will er das abgrenzen, gegen welche Ansicht hält es Hegel nötig, dies extra hervorzuheben? An anderer Stelle spricht (polemisiert ) Hegel extra gegen das freie drauflosen schwafeln und für Systematik und erklärt, das auch beim nachvollziehen eines Gedankens gedacht wird [KF: und in dem dieser Gedanke nach- vollzogen wird, er uns nicht mehr fremd ist und wir ihn als richtig verstehen oder als fehlerhaft verwerfen]. Aber an dieser Stelle gilt wohl das von Hegel an Niethammer im Begleitbrief (s.416ff) gesagte, dass er zuwenig Zeit hatte, das Geschriebene zu überarbeiten.

Dafür hat er auch gleich zwei Methoden parat.

Die beiden Methoden sind wohl weniger Weisen des abstrakten Denkens, sondern wohl eher zwei “pädagogische” Methoden einen gegebenen Stoff darzustellen.

Beide haben ihre von Hegel dargestellten Schwächen: während eine abstrakte Ableitung unanschaulich ist, ist eine rein sich am konkreten orientierende Darstellung zu weitläufig, und würde (falls sie sich tatsächlich nicht insgeheim am abstrakten orientieren würde) allen möglichen überflüssigen bis ablenkenden Ballast mit sich schleppen.

Darum wird in der tatsächlichen pädagogischen Praxis meist eine Mischform benutzt: in den unteren Klassen werden manchmal einfachere, anschaulichere Themen behandelt (auch Hegel empfiehlt das in seinem Gutachten: er hat mit dem “konkreteren” Stoff der Recht- und Pflichtenlehre dabei gute Erfahrungen gemacht) und auch in einer konkreten Unterrichtsstunde kann ein Film, ein Experiment o.ä. als “Motivation” dem Vorstellungsvermögen der Schüler entgegenkommen.

Andererseits ist völlig klar, dass jeder Stoff sinnvoller Weise beim abstrakten / einfachen anfängt und sich dann zum Komplexeren, Schwierigerem fortschreitet, wobei so vorgegangen wird, dass zuerst die Grundlagen erklärt werden und dann dasjenige, worauf aufgebaut wird.

Denke etwa an das schreiben und lesen lernen, der Mathematik- oder Sprachunterricht im ganzen Schulverlauf oder der Ablauf eines beliebigen Faches / Kurses in einem beliebigen Schuljahr.

Meine Frage nun ist: Wie kommt man denn zur Abstraktion?

Da der Inhalt des vorliegenden Privatgutachtens von der pädagogischen Darstellung / Aufbereitung eines vorhandenen Wissens, Systems (einschließlich der darin enthaltenen Begriffe = guter Abstraktionen) geht, wird diese Frage in der Tat in dem Gutachten nicht behandelt.

Erkenntnistheoretische Fragen behandelt Hegel explizit in dem Teil “Theoretische Psychologie” seines “Subjektiven Geistes” (im 3.Teil der Enzyklopädie, stw 610) behandelt. Es gibt dazu auch ein nützlichen Kommentar von Güssbacher, Heinrich: “Hegels Psychologie der Intelligenz”.

Wobei die ausführliche, “echte” Antwort von Hegel natürlich seine Enzyklopädie als ganzes ist (oder, negativ / in Abgrenzung: seine Kritik an Kant.

Andererseits sind diese Fragestellungen eigentlich unhegelianisch und eher für Kantianer  interessant.

Du scheinst mit recht eher an den praktischen Fragen, wie man den zu einer richtigen Abstraktion, einem Begriff kommt interessiert zu sein, wenn ich deine abschließende Frage richtig interpretiere.

Hegel behandelt diese Problem ausführlich in seiner Logik. Ich habe, gerade aus praktischer Sicht und für die Vorstellung, in dem bereits mehrfach erwähnten Essay auch etwas dazu geschrieben.