Spiegelartikel zur Farbenlehre:               DER SPIEGEL Nr. 33, Mittwoch. 12. August 1959, Seite 57 ff., FORSCHUNG

FARBEN

Die schlafende Schönheit

 Seit Generationen scheint die Epoche beendet zu sein, in der ein einzelner Forscher durch eine simple Entdeckung jahrhundertealte Anschauungen der Wissenschaft umzustürzen vermag. “Doch genau das hat Dr. Land fertiggebracht,” konnte jüngst die amerikanische Zeitschrift “Fortune” aus der US-Stadt Cambridge berichten.

 Obgleich sich die wissenschaftlichen Bezirke, in denen heutzutage riesige Forscherstäbe neue Erkenntnisse in mühseligen Versuchsreihen erarbeiten müssen, längst in den Atom-kern oder die Zelle, an die Grenzbereiche der Atmosphäre und gar des Universums verlagert haben, glückte dem amerikanischen Physiker Dr. Edwin H. Land, Chef der amerikanischen Kamera-Werke “Polaroid,” in der Alltagsumwelt des Menschen eine revolutionäre Entdeckung. Sie kündet eine tiefgreifende wissenschaftliche Umwälzung an, denn Lands Versuche beweisen, daß die menschlichen Augen auch dort Farben erkennen, wo nach der gültigen Farben-Theorie, die Isaac Newton vor 300 Jahren begründete, nichts Farbiges vorhanden sein dürfte.

 Damals bohrte der 24jährige  Dozent der Naturwissenschaften ein Loch in den Fensterladen seines  verdunkelten  Zimmers und hielt ein Prisma vor den hereinfallenden Sonnenstrahl. Der Anblick, der sich ihm auf der gegenüberliegenden Zimmerwand bot, begeisterte den jugend-lichen Experimentator so sehr, daß er noch fünf Jahre später in einer Abhandlung davon schwärmte. Das Prisma hatte den Sonnenstrahl  auseinandergezerrt; statt eines runden, weißen Lichtflecks leuchtete auf der Zimmerwand ein buntes Lichtband in allen Farben des Regenbogens.

 Newton taufte den künstlichen Regenbogen “Spektrum,” das Gespenst. Er begann eine Serie ausgeklügelter Versuche, deren Ergebnisse er 1704 veröffentlichte. Die Farben, postulierte Newton, sind Eigenschaften des Lichts.

 Die Farbentheorie, die sich aus den Entdeckungen des englischen Experimentier-Genies  ergab,  besagt etwa: Das Farbensehen hängt von der Wellenlänge der Lichtstrahlen ab, die von farbigen Gegenständen zurückgeworfen werden und die Netzhaut des Auges treffen. Jeder Farbreiz ist auf die Einwirkung eines Lichtstrahls zurückzuführen, der seine ganz bestimmte Wellenlänge hat. Die Wellen eines gewissen Längenbereichs beispielsweise rufen den Eindruck “rot” hervor, die Wellen eines anderen Bereichs den Eindruck “gelb” - und so weiter. Jede Farbe hat im Bereich  der  Wellenlängen  einen  bestimmten Abschnitt.

  In einer Kette brillanter Experimente demonstrierte nun Dr. Land, daß das Auge keineswegs “rote” Wellenlängen des Lichts benötigt, um rot zu sehen, “gelbe” Wellenlängen des Lichts, um gelb, oder “grüne,” um grün zu erblicken. Das Auge, bewies Land, sieht auch dann alle Farben des Regenbogens, wenn es nur mit zwei Farben verschiedener Helligkeit gefüttert wird. Das bedeutet: Die Wellenlängen der Lichtstrahlen spielen längst nicht die entscheidende Rolle, die alle Wissenschaftler ihnen bisher zuschrieben. Das Farbensehen ergibt sich nach Land vielmehr aus dem Zusammenwirken kürzerer und längerer Wellen, die gleichzeitig auf das Auge treffen. In ein akustisches  Beispiel  übertragen, bedeutet Lands Entdeckung, daß ein Pianist nicht mehr alle Tasten der Klaviatur anzuschlagen  braucht, damit  das Ohr die verschiedenen Töne hört, vielmehr kann das Ohr alle Töne der Tonleiter vernehmen, wenn nur zwei Tasten mit jeweils verschiedener Lautstärke angeschlagen werden. Land benutzte nämlich Schwarzweiß - Photographien zusammen mit verschiedenen Filtern oder Licht-quellen und reproduzierte farbige Abbilder einer Szene oder eines Objekts in naturgetreuer Wiedergabe der ganzen Farbskala - obgleich nach klassischer Theorie nur eine oder höchstens zwei Farben, wie “Fortune” formulierte, “wirklich anwesend waren.”

  In zwei Sätzen umschrieb das Blatt die weitreichenden Konsequenzen dieser Tat:

“Jedes Lehrbuch über Farben muss neugefaßt werden.” Und:

“Es  eröffnen  sich  neue Möglichkeiten zu vereinfachtem und besserem Farbfernsehen.”

 Die Physiologen waren beim Experimentieren mit Farben schon “immer zu Ergebnissen gelangt, die der Physiker nicht zu  erklären vermochte. Sie konnten sämtliche Farben herstellen, die es überhaupt gibt, wenn sie nur drei sogenannte”Grundfarben" - nämlich Rot, Grün und Blau - miteinander mischten. Dabei treten dann auch jene Farben auf, die dem Regenbogen und dem Spektrum fehlen, wie Braun oder Purpur.  Diese  seltsame Vorzugs-stellung der drei Grundfarben ist physikalisch nicht zu erklären und muss also durch eine Eigentümlichkeit des menschlichen Auges zustande kommen.

 So vermutete der englische Forscher Thomas Young (1773 bis 1829), das menschliche Auge  enthalte drei verschiedene “Seh-Elemente,” die das rote, blaue und grüne Licht verarbeiten und daraus das farbige Bild der Welt aufbauen, die es sieht. Der deutsche Physiologe Hermann Helmholtz (1821 bis 1894) griff die Ansicht auf und verwandte sie als Fundament für seine “Dreifarbentheorie des Sehens,” die mit unwesentlichen Abänderungen bis heute gültig blieb.

Auf der Grundlage des Dreifarbensehens war es dem berühmten englischen Physiker James Clark Maxwell schon  im  Jahre 1855 gelungen,  das erste Farbphoto der Welt zusammenzubauen. Maxwell knipste ein Farb-Objekt mit Schwarzweiß-Photoplatten insgesamt dreimal: einmal durch einen roten Filter, dann durch einen grünen und schließlich durch einen blauen. Das Ergebnis: drei Schwarzweiß-Negative, auf denen die einzelnen  Farben - dem jeweils verwendeten Filtern entsprechend - als unterschiedlich starke Grau-tönungen erschienen.

 In der zweiten Versuchsphase schob Maxwell jede Schwarzweiß-Platte in einen Projektor, schraubte wieder jeweils einen Rot-,  einen  Grün- und  einen  Blaufilter davor und verschob die Projektoren derart, dass die drei Bilder sich deckten - auf der Projektionsfläche leuchtete das  erste Farbphoto der Geschichte.

 Seitdem glauben die Photochemiker, dass ein Farbfilm drei Farbschichten aufweisen müsse, damit er ein farbiges Abbild der Natur reproduzieren könne. Aufgrund derselben Theorie mühten sich auch die Fernsehtechniker, mit Hilfe von drei Elektronenstrahlen ein farbiges Bild auf die mit drei Leuchtschichten ausgestatteten Bildröhren ihrer Farbfernsehempfänger zu bannen. Keiner von ihnen kam auf den Einfall, einmal  probeweise eine Emulsion oder einen Strahl einzusparen. Erst der Firmenchef Dr. Land entdeckte  nun, dass das menschliche Auge solche  Ökonomie  gestattet. Land hatte 1937 die “Polaroid-Gesellschaft”  gegründet  und  seitdem  fast hundert verschiedene Kameratypen  entwickelt, von denen in Amerika besonders die "Polaroid’’-Kamera beliebt ist, die dem Photographen sechzig Sekunden nach der Aufnahme das fertige Bild beschert. Im Mai 1955 arbeitete Land für ein neues Kamera-Modell an einem Farbphoto-Verfahren, das wie Maxwells farbige Projektion des Jahres 1855 Schwarzweiß-Filme und Farbfilter verwenden sollte. Land photographierte eine farbige Szene dreimal hintereinander mit Schwarzweiß-Film, wobei er jedesmal einen anderen Filter vor die  Linse schaltete - zuerst einen roten, dann einen blauen, schließlich einen grünen.

 Von diesen Aufnahmen fertigte er durchsichtige Positive (Diapositive) an, steckte sie in drei  Projektions-Apparate und setzte wieder die entsprechenden Farbfilter vor die Linsen der Projektoren.  Auf   der Projektionsfläche leuchteten ein rotes, ein blaues und  ein  grünes Bild nebeneinander.

 Dann verschob Land die Projektions-Apparate so weit, dass alle drei Bilder sich genau überlagerten und - wie zu erwarten war - eine farbige Projektion entstand, die von der Projektion eines Farb-Diapositivs nicht zu unterscheiden ist. Bis dahin hatte Land lediglich den Versuch Maxwells aus dem Jahre 1855 wiederholt.

 Die Überraschung kam erst, als Dr. Land nun seine Finger vor den blauen Strahlengang hielt, nur so, um zu sehen, was geschehen würde. Er wunderte sich nicht einmal, dass die Projektion immer noch in allen  Farben leuchtete, und nahm schließlich auch noch den grünen Filter ab. Die  Projektion an der Leinwand blieb jedoch auch jetzt unverändert. Obwohl nur noch ein rot erleuchtetes und ein weiß erleuchtetes Schwarzweiß-Bild übereinander an die Projektions-fläche geworfen wurden, leuchtete dort das Bild in sämtlichen Farben. “Wie ist es möglich, dass ich das Bild immer noch in allen Farben sehe?” fragte ihn seine Assistentin. Dr. Land erzählte ihr etwas von dem Trägheitseffekt des Auges.

 Doch bald kamen ihm Zweifel, und noch in der folgenden Nacht schlich er sich  allein ins Labor zurück und wiederholte das ihm unverständliche Experiment. Der Blau-Projektor blieb ausgeschaltet. Das mit rotem Filter aufgenommene Diapositiv wurde mit rotem Filter proji-ziert, das Grün-Diapositiv ohne Filter. Ein weißes, ein rotes Strahlenbündel  fielen auf  die Leinwand - doch von dort herab leuchtete ein Bild, das auch die grünen, gelben, blauen und braunen Farbtöne naturgetreu  wiedergab. Um den schier unfassbaren Spuk zu entlarven, griff Dr. Land zur Kamera, der seit der Erfindung der  Photographiertechnik  absolute  Unbe-stechlichkeit  nachgerühmt wird. Er legte einen Farbfilm ein und knipste den Farbbild-Spuk auf der Projektionsfläche. Auch die Farbaufnahme zeigte alle Farben.

 Von da an blieb Dr. Land dem hirnzerrüttenden Phänomen weiter auf der Spur. Vorerst versuchte er den naheliegenden Einwand zu entkräften, dass das Auge dort allemal Grün sieht, wo es Grün zu sehen erwartet. Er riet seine Assistenten zusammen und befahl ihnen, die Lippen grün zu schminken. Dann mussten sie sich gemeinsam auf ein Rasenstück setzen, das rot gepudert wurde. Land verfertigte wieder mit rotem und grünem Filter Aufnahmen von der Gruppe und projizierte  sie wiederum mit rotem und ohne Filter.

 Das Auge jedoch trog nicht. Auf der Leinwand grinsten sich die Assistenten mit grünen Lippen an, und solange auch Land das Bild anstarrte - das gepuderte Gras war und blieb rot. Der Farbspuk war also nicht auf einen Trägheitseffekt oder die Täuschungsbereitschaft des menschlichen Auges zurückzuführen.

  Nach diesem wichtigen Zwischenergebnis vertiefte sich Land in einschlägige wissenschaft-liche Literatur. Dabei entdeckte er in  E. J. Walls “History of Three-Color Photography” aus dem Jahre 1925 einen winzigen versteckten Hinweis auf missachtetes Erfindergeschick: William F. Fox und William F. Hickey von der amerikanischen "Kinemacolor’’-Firma hatten schon im Jahre 1914 ein Patent für ein farbiges Stummfilm-System erhalten. Vor einem durch verschiedene Filter belichteten Schwarzweiß-Film sollte sich nach den frühreifen Ideen von Fox und Hickey eine Scheibe drehen, die Felder aus klarem durchsichtigen und aus rotem Glas enthielt. Ein in dieser Weise rasch abwechselnd weiß und rot vorgeführter Filmstreifen würde farbig erscheinen, versprachen sie in ihrem Patent.

 Bei weiterer Nachsuche fand Land, dass auch ein Engländer namens Anthony Bernardi im Jahre 1929 eine Serie britischer Patente über eine ähnliche Erfindung erworben hatte. Aber kein Farbphoto-Experte hatte sich dieses Fox-Hickey-Bernardi-Phänomen zunutze gemacht.

 In diesem Stadium der Forschungsarbeit zeichnete die Gesellschaft photographischer Techniker den Dr. Land für seine Kamerakünste mit ihrer Fortschritts-Medaille aus. Nach der Verleihung hielt Land einen Vortrag über das von ihm neu entdeckte Phänomen. Er gab seinem Bericht den Titel “Der Fall der schlafenden Schönheit.”

 Dem Dr. Land dämmerte längst, dass sich das fundamentale Gesetz des Farbsehens in  jenen  seltsamen  Farben-Phänomenen verbergen musste, die in den physiologischen Werken als “Anomalitäten” und “trügerische Effekte” des menschlichen Auges abgehandelt werden. Ein solcher Effekt, unter der Bezeichnung “Farbige Schatten” bekannt, war es auch, der den Naturforscher Johann Wolfgang von Goethe zum Studium der Farben angeregt hatte. Als nämlich Goethe auf einer winterlichen Harzreise in der Dämmerung vom Brocken herabstieg, gewahrte er plötzlich, dass die Schatten der Bäume und Felsen purpur und smaragdgrün leuchteten. Auch bei diesem farbigen Trugbild waren zwei Lichtarten im Spiel: das diffuse Himmelslicht und das gelbe Licht der untergehenden Sonne.

 Im Jahre 1810 veröffentlichte Goethe seine Farbenlehre, in der er heftig gegen die Farben-theorie Isaac Newtons polemisierte. Obgleich Newton durch sein Prismen-Experiment gezeigt hatte, dass das weiße Sonnenlicht aus den Farben des Regenbogens besteht, vertrat Goethe die Auffassung, das weiße Licht sei ein “Urphänomen,” es könne nicht weiter zerlegt werden: Das “Licht” müsse mit “Dunkel” gemischt werden, damit “Farbe” entstehe.

  Freilich: Der Polemik Goethes war kein wissenschaftlicher Erfolg beschieden. “Newton hat das Wesen der neuzeitlichen Wissenschaft besser verstanden als Goethe,” resümierte  der deutsche Physikprofessor Carl Friedrich von Weizsäcker in einem Nachwort zu Goethes “Naturwissenschaftlichen Schriften.”- “Wir heutigen Physiker sind in unserm Fach Schüler Newtons und nicht Goethes.”

 Doch auch die Schüler Newtons werden nun umlernen müssen. Bei der Erforschung der Farben-Phänomene, die den Naturforscher Goethe zum Studium der Farben veranlassten, haben die Wissenschaftler nach Dr. Lands Meinung einen Fehler begangen: Sie experimen-tier-ten stets nur mit einem Lichtstrahl oder einem Leuchtfleck. Auf der Bildfläche eines Schwarzweiß-Diapositivs aber habe jeder Bildpunkt infolge der unterschiedlichen Grau-tönung einen anderen Helligkeitswert.

 Erläuterte Dr. Land: Wenn ein Filmstar in einem Schwarzweiß-Film auf der Leinwand erscheint, dann hat der Film die Farbe der blonden Haare, der blauen Augen und der roten Lippen in Graustufen übersetzt. Die verschiedenen Flächen des Films lassen, je nach Graustufe, eine unterschiedliche  Lichtmenge  durch. Vielleicht, so vermerkte Land, hingen die neu entdeckten Vielfarben-Effekte der zweifarbigen Projektionen mit den Helligkeits-werten der einzelnen Farben in jedem Bildpunkt zusammen. Gemeinsam mit einem Optik-Experten seiner Firma konstruierte Land einen Apparat, der mit nur zwei Gelbstrahlen alle erdenklichen Farb-Empfindungen im Auge erzeugt.

 Die Erkenntnis, dass auf der Grundlage der von Dr. Land erarbeiteten “Zweifarbenlehre des Sehens” nun ein vereinfachtes Farbfernseh-System denkbar ist, veranlasste Ende des vergan-ge-nen Monats den amerikanischen Mammut-Konzern General Electric, die Produktion der  herkömmlichen, äußerst komplizierten und teuren Farbfernsehgeräte einzustellen und mit der Entwicklungsarbeit von vorn zu beginnen.

 “Es ist unbezweifelbar,” kommentierte die Zeitschrift “Fortune,” “dass unser neues Wissen zu einer neuen Technik des Farbfernsehens führen wird, der gegenüber die bisher  angewandten  Verfahren  primitiv und schwerfällig erscheinen werden.”