Quelle: (Hoffmann 2004)

Hegel ist mit seiner Habilitationsschrift nun freilich ein seltsames Mißgeschick widerfahren, zu dem hier, wiewohl Überlegungen dieser Art dann auf ganz anderem Niveau liegen als die naturphilosophische Grundaussage, um die sich die Dissertatio bemüht, kurz Stellung genommen werden muss.

Man findet nämlich immer wieder die Anekdote kolportiert, Hegel habe in seiner Habilitationsschrift aus Gründen a priori bewiesen, daß es zwischen dem vierten und dem fünften Planeten unseres Sonnensystems, also zwischen Mars und Jupiter, keinen weiteren Planeten geben könnte.

Peinlicherweise aber habe am Neujahrstag des Jahres 1801, also einige Monate vor Hegels Beweis der Unmöglichkeit einer solchen Entdeckung, der Astronom Giuseppe Piazzi (1746-1826) in Palermo die Ceres entdeckt - und zwar genau dort, wo sie nicht sein sollte, nämlich ungefähr in der Mitte zwischen Mars und Jupiter.

Die Anekdote reihte sich, vorausgesetzt, daß sie stimmte, in die Sammlung jener heiteren Philosophenhistörchen ein, deren Prototyp bereits Thales der Milesier geliefert hat, als er ganz weltenthoben den Himmel studiert und dabei, zur Erheiterung einer thrakischen Magd, in die Grube fällt.

Nur stimmt die Hegel-Anekdote eben doch nicht so ganz, und zwar in mehrfacher Hinsicht nicht.

Der Sachverhalt ist der folgende.

Am Ende seiner Habilitationsschrift kommt Hegel kurz auf die Frage nach den Abständen zwischen den Planetenbahnen zu sprechen; das Ganze ist eine Art Anhang oder Nachbemerkung in Bezug auf eine zeitgenössische astronomische Diskussion.

Im 18. Jahrhundert hatten die beiden Astronomen Johann Daniel Titius (1729-1796) und Johann Elert Bode (1747-1826) versucht, für die Abstände der Planetenbahnen eine fixe Relation, die sogenannte Titius-Bodesche Reihe, aufzustellen.

Die Formel, die auf eine Art arithmetischer Progression in den Abständen führte, forderte für die Position zwischen Mars und Jupiter, wo man nichts weiter als eine große Lücke wahrnahm zwischen Mars und Jupiter liegt eine Entfernung des etwa 3,7fachen des Abstandes der Erde von der Sonne, während der Mars von der Erde nur etwa den halben Abstand Erde-Sonne entfernt ist -, einen weiteren Planeten.

Der Umgang mit der Titius-Bodeschen Reihe ist dann ein typisches Beispiel für das Verfahren der neueren, konstruktiven Naturwissenschaft: eine ganze Astronomengruppe, mit Spitznamen die »Himmelspolizei« genannt, machte sich daran, den geforderten Planeten zu suchen, und 1801 fand, wie erwähnt, Piazzi zwar nicht gerade einen ausgewachsenen Planeten, aber immerhin doch einen Himmelskörper mit einem Durchmesser von ungefähr 930 km, Ceres eben, die man heute unter den »Planetoiden« führt.

Damit schien fürs erste die Titius-Bodesche Reihe bestätigt.

Allerdings nicht für gar so lange: als 1846 Neptun als Planet noch jenseits von Uranos identifiziert wurde, stimmten die Werte wieder nicht; vor allem aber wurden sehr bald noch jede Menge weiterer Planetoiden gefunden; heute liest man in den astronomischen Lehrbüchern, es seien etwa an die 50 000, vielfach mit Durchmessern unter l km, vielfach auch auf exzentrischen Bahnen, und, was auch nicht ganz uninteressant ist, mit einer Gesamtmasse, die geringer ist als die des Erdmondes.

Man hat eine Zeitlang geglaubt, daß dort, wo, um Ceres herum, der sogenannte Planetoidengürtel liegt, ursprünglich ein echter Planet anzutreffen gewesen sei, der nur irgendwann in Stücke brach.

Diese Theorie aber gilt heute als überholt; die gewaltige Jupitergravitation - der Planet Jupiter weist eine Masse auf, die ca. 318 mal so groß ist wie die der Erde - läßt tatsächlich keine Existenz eines veritablen Planeten an dieser Stelle zu.

So weit, so gut: was hat nun Hegel zu dieser Frage wirklich bemerkt ?

Er sagt zunächst, daß die Titius-Bodesche Reihe als eine rein arithmetische Progression philosophisch ohne Interesse ist, und zwar obwohl, wie Hegel ausdrücklich bemerkt, faktisch emsig gesucht wird; das entspricht seinem (übrigens auch bei Leibniz anzutreffenden) Gedanken, daß bloße quantitative Gesetzmäßigkeiten noch nicht den Sprung zu einer natürlichen Existenz gestatten; heuristische Prinzipien, wie begründet auch immer, sind noch keine Realgründe für die Existenz von Naturgegenständen.

Dann geht Hegel jedoch einen Schritt weiter, indem er eine Hypothese formuliert: man könnte eher noch als an die Titius-Bodesche Reihe an eine geometrische Progression denken, wie sie Platon schon im Timaios angegeben hat, und man würde mit Hilfe einer Rechenoperation, die Hegel dann auch angibt, eine Abstandsfolge, die der tatsächlichen mit Einschluß der Lücke zwischen Mars und Jupiter entspricht, erhalten.

Das Ganze ist eindeutig in Form einer Nachtragshypothese formuliert, das heißt, Hegel macht, übrigens in Anlehnung an Kepler, einen Alternativvorschlag zu der Titius-Bodeschen arithmetischen Reihe (von welcher heute in den Kompendien steht, daß sie nur zufallig mit einem Teil der Planetenabstände übereinstimmt), und er versucht mit dem Alternativvorschlag, der Lücke zwischen Mars und Jupiter Rechnung zu tragen, die in der Tat, trotz der inzwischen aufgetauchten Überfülle an Kleinplaneten, ja immer noch eine Lücke ist.

Seine eigene Hypothese begründet er damit, daß geometrische Progressionen quantitative Selbstverhältnisse ausdrücken und von daher eher geeignet seien, Selbsthaftes wie die Naturgegenstände widerzuspiegeln, als rein lineare Zahlfolgen.

Und wem es nicht genug ist, daß Hegel also unter dem Strich mit der Ablehnung von Titius-Bode recht behalten hat (und darum ging es zunächst), ja, daß er in gewisser Weise auch gegen Piazzi recht behalten hat - denn Ceres und ihre 50 000 Kollegen sind eher »akzidentelle« als wirklich konstitutive Momente des Planetensystems -, wem es schließlich nicht genug ist, daß er seine Alternative hypothetisch einführt: wem also dies alles nicht reicht, der kann darauf verwiesen werden, daß Hegel in der Naturphilosophie, wie er sie in Berlin vorgetragen hat, die bis dahin entdeckten Planetoiden Ceres, Pallas, Juno und Vesta alle getreulich aufzählt, um dann festzustellen, das an ihrer Stelle, die offenbar eine Zäsur zwischen dem inneren und dem äußeren Planetensystem bildet, die »Zersplitterung, das Außereinander überwiegend« sei, die Natur also gegen die unbestimmte Mannigfaltigkeit gehe.

Stellt man dies alles in Rechnung, dann empfiehlt es sich vielleicht doch, die Weiterverbreitung der netten Anekdoten erst einmal durch Textstudium zu ersetzen und da gibt es einiges zu tun.

Bibliographie

Hoffmann, Thomas Sören. 2004. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Eine Propädeutik. 1st ed. Marixverlag.