Ich habe auf Ihrer Seite den Beitrag zu Goethes Farbenlehre gesehen (s. Empirischer Beleg für Goethes Farbenlehre) und da ich mich schon seit einiger Zeit mit Goethescher Naturwissenschaft, insbesondere der Optik befasse, möchte ich dazu etwas bemerken.

Dass in der Ebene A (in der Abb.) noch kein Grün, sondern inder Mitte Weiss

auftritt, ist in der einigermassen aufmerksamen Fachweltbekannt und war auch Newton bekannt. Der Umstand wird etwa so erklärt: Das in diesem Fall breite, von links einfallende Lichtbündel enthält Lichtstrahlen sämtlicher Spektralfarben, die in ihrer Mischung als weisses Licht erscheinen. Jeder dieser Lichtstrahlen wird beim Durchgang durch das Prisma entsprechend seiner Farbe abgelenkt (rot schwach, violett stark). Da aber im fraglichen Raumbereich nach dem Prisma die so entstandenen Spektren wiederüberlappen, ergibt sich als Mischung aller Farben wieder Weiss, außer an den Rändern, da dort ein Teil der Farben fehlt. Ich habe zur Zeit die betreffenden Bücher nicht zur Hand, doch wenn ich mich richtig erinnere, ist diese Erklärung in Newtons Optik zu finden.

Goethe setzt die verschiedenen Phänomene, so wie sie sich zeigen, in gegenseitige, rein gedankliche Beziehung und führt auf diese Weise komplexere Phänomene auf einfachere zurück, beispielsweise die “Zerlegung des weissen Lichts in die Spektralfarben” auf die Farbränder, die beim Prismenversuch an Hell-Dunkel-Grenzen entstehen. Newton denkt in ein Phänomen Dinge hinein, die im betreffenden Phänomene gar nicht in Erscheinung treten, die aber trotzdem phänomenartig oder wahrnehmungsartig gedacht sind, etwa die einzelnen farbigen Lichtstrahlen im weissen Strahlenbündel vor dem Eintritt ins Prisma. Die Newtonsche Beweisrichtung ist der Goetheschen entgegengesetzt: Die “Zerlegung des weissen Lichtes in die Spektralfarben” ist ein Grundprinzip und die Farbränder an Hell-Dunkel-Grenzen eine davon abgeleitete bzw. dadurch erklärte Erscheinung.

Die heutige Optik umfasst kompliziertere Begriffe wie Lichtwellen, Lichtquanten usw., der erwähnte Widerspruch ist jedoch nach wie vor vorhanden: Zur Erklärung der Erscheinungen werden unwahrnehmbare, aber gleichwohl wahrnehmungsartig gedachte Elemente verwendet. Aus physikalischer Sicht besteht die ganze Welt aus derartigen Objekten.

Die Entscheidung der Frage, ob Goethe oder Newton recht hat, ergibt sich nicht allein aus der Betrachtung der Phänomene; man muss auch die wissenschaftliche Methode, d.h. die Art und Weise, wie die Phänomene aufeinander bezogen werden, vergleichen. Lehnt man die Verwendung unwahrnehmbarer, aber wahrnehmungsartig gedachter Elemente als Erklärungsgrundlage ab, so steht man auf der Seite Goethes. Man wird dann eine Theorie anstreben, welche nichts anderes enthält als tatsächliche Phänomene und rein gedankliche Beziehungen.

In der Wissenschaft der Logik bringt Hegel das Problem auf den Punkt, nämlich in den Anmerkungen “darüber dass es keinen Sprung in der Natur gebe.” Auf die Gefahr hin, dass ich für Sie nichts Neues sage, wollte ich doch noch darauf hinweisen. Das Entstehen der Farben aus weissem Licht beim Durchgang durchs Prisma ist ja ein qualitativer Sprung . Newton behandelt diesen Prozess genau so, wie es Hegel kritisiert, ungefähr mit den Worten: “Es liegt die Vorstellung zugrunde, dass das Entstehende schon sinnlich oder überhaupt wirklich vorhanden, nur nicht wahrnehmbar sei; es wird damit das Entstehen und Vergehen überhaupt aufgehoben” (S.440f).

Die moderne Physik verfährt hier in dieser Hinsicht nicht anders, indem sie die Farbzerlegung des weissen Lichtes als eine quantitative Änderung der Ausbreitungsrichtung von Lichtwellen verschiedener Wellenlängen auffasst und die qualitative Veränderung als bloß subjektiv ansieht. Hier liegt die Differenz zu Goethe. Meines Erachtens wird der Unterschied zwischen Newtons Lichttheorie und Goethes Farbenlehre oft zu sehr auf einen Streit über empirische Fakten reduziert, wobei doch der Hauptunterschied in der wissenschaftliche Methode liegt.

Grimsmann/Hansen antworten (30.09.04):

Wenn wir Newtons Erklärung, daß kurz nach dem Prisma kein Grün, sondern Weiß

und Grün erst entfernter erscheint, aus Ihrem Brief richtig verstehen, so müßte sich die Sache ungefähr wie in Bild III dargestellt verhalten:

Hiernach entsteht Weiß durch Überlagerung aller Farben (A), welche erst in einiger Entfernung auseinandertreten und so Grün als letztes erscheint (D).

Insofern werden diese Teilaspekte des Gesamtphänomens auch durch Newton erklärt.

Aber dann müßten sich auch in weiterem Abstand alle Farben auseinandersortieren (E), was aber in Wirklichkeit nicht der Fall ist.

Die vollständigen Fakten entsprechen allein Goethes Theorie, wonach Gelb und Blau auf kosten von Grün verschwinden.

Ferner wird Violett durch Mischung mit Gelb zu Grau und dadurch schmaler:

Auch das in Bild III von uns grau dargestellte Zentrum müßte als vielfach wechselnde bunte Mischzone erscheinen, Prismenversuche zeigen aber gleichbleibend scharfe Farbkanten von Rot/Gelb und Blau/Violett.

Unseres Erachtens nach, müßte also, um den Streit zu entscheiden, eher mehr und vor allem genauer auf die empirischen Fakten gesehen werden.

Hegel:

‘Diese Übereinstimmung mit der Erfahrung kann für einen wenigstens äußeren Prüfstein der Wahrheit einer Philosophie angesehen werden.’

Enz1830 §6

Empirischer Beleg für Goethes Farbenlehre