Einleitung

Die gängigen Darstellungen zum “Systemzusammenbruch” der Hegelschen Philosophie sind oberflächlich und falsch.

Die Kritiken an Hegel im 19. und 20.Jahrhundert beruhen zu großen Teilen (insbesondere in den Formen, die bekannter / wirksamer geworden sind) auf Missverständnissen12.

J.E.Erdmann3, C.L.Michelet4 und C.Rosenkranz5 haben als Hegelschüler noch bis in die 1870er Jahre weiter als Hegelianische Professoren gelehrt und geforscht (und gute Bücher geschrieben), aber das hat dann nach 1848 nur noch Wenige interessiert.

Im Ausland gab es zu Hegels Zeiten und danach viele lokale Hegel Renaissancen (in ganz Skandinavien bis ca. 1870, in Polen und Russland des 19.Jahrhunderts, in Großbritannien6 und den USA7 in der 2.Hälfte des 19.Jahrhunderts, in Italien von Hegels Zeiten ununterbrochen bis Ende des 20.Jahrhunderts usw.)

Allerdings waren alle diese Hegel-Rezeptionen nur teilweise und auch teilweise mangelhaft, wir sind da heute in einer besseren Situation.

Persönlich vermute ich, dass Hegel mit der Zeit den Status bekommen wird, den Platon und Aristoteles die vorherigen 2500 Jahre hatten.

chronologische Auflistung

Ich versuche im Folgenden einige Fakten zusammen mit diversen Einzelbebachtungen chronologisch zusammen zu fassen (Es handelt sich um die Lesefrüchte aus Dutzenden Büchern zum Thema, die ich über viele Jahre gelesen habe. Soweit ich 2020 eine Quelle leicht zur Hand habe, habe ich diese in den Fußnoten angegeben, der Rest erfolgt aus dem Gedächtnis):

Das Folgende sollte dabei vor dem Hintergrund der Zeitumständen von Hegels letzten Jahren in Berlin, wie auch in der Hegel.net Hegel-Biographie, im Abschnitt über Berlin8 geschildert, gelesen werden.

All dies führt dazu, das Hegel im Bewusstsein der Öffentlichkeit (aber auch an den Universitäten, wo sich eh im 19.Jahrhundert der Prozess der Abnabelung der Einzelwissenschaften von der Philosophie ereignet - noch ein Punkt!-) ein “todter Hund” ist, sein System als widerlegt und zusammengebrochen gilt.

Zusammenfassung der größten Probleme im Umfeld

Vom Umfeld her kommen im Prinzip mindestens drei feindliche Tendenzen zusammen, denen die Hegelianer nach Hegels Tod nicht mehr genügend entgegen stellen konnten:

Philosophiegeschichtlich - innerphilosophisch

Philosophiegeschichtlich müsste man das Ganze natürlich auch innerphilosophisch erklären können, das wäre am interessantesten.

Hösle hat sich mit dem Problem im Zusammenhang mit der Philosophiegeschichtsschreibung im 1.Teil seines Buches “Wahrheit und Geschichte” (s.u.) beschäftigt. Nach ihm folgt auf den Abschluss eines Zyklus in einem großen System des objektiven Idealismus (wie bei Hegel) eine Phase des Dogmatismus, dann Empirie, Kritizismus etc.30.

Zum anderen kann man auch rein inhaltlich sagen, dass nach der großen, allumfassenden Synthese von Hegel eigentlich nur zwei Wege blieben:

Bibliographie

Bauer, Bruno. 1841. Die Posaune des jüngsten Gerichts über Hegel den Atheisten und Antichristen: Ein Ultimatum. 1st ed. Berlin: Otto Wiegand. https://hegel.net/bauer/BrunoBauer1841-Die_Posaune_des_juengsten_Gerichts.pdf.
Burkhardt, Bernd. 1993. "Hegels ’Wissenschaft der Logik’ im Spannungsfeld der Kritik: Historische und systematische Untersuchungen zur Diskussion um Funktion und Leistungsfähigkeit von Hegels "Wissenschaft der Logik" bis 1831. Hildesheim: Georg Olms Verlag.
Erdmann, Johann Eduard. 1866. Grundriss der Geschichte der Philosophie. 1st ed. Vol. 2. Berlin. https://hegel.net/erdmann/Erdmann1866-Grundriss_der_Geschichte_der_Philosophie-Bd2-1Aufl.pdf.
———. 1870. Grundriss der Geschichte der Philosophie. 2nd ed. Vol. 2. Berlin. https://hegel.net/erdmann/Erdmann1870-Grundriss_der_Geschichte_der_Philosophie-Bd2-2Aufl.pdf.
Eßbach, Wolfgang. 1988. Die Jungehelianer - Soziologie einer Intellektuellengruppe. München: Wilhelm Finck Verlag.
Hansen, Frank-Peter. 2000. Geschichte der Logik des 19. Jahrhunderts. Eine kritische Einführung in die Anfänge der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Würzburg: Königshausen & Neumann.
Haym, Rudolf. 1857. Hegel und seine Zeit. 1st ed. Berlin: Rudolph Gärtner. https://hegel.net/haym/Haym1857-Hegel_und_seine_Zeit.pdf.
Hegel, Karl. 1900. Leben und Erinnerungen. 1st ed. Berlin: Verlag von S. Hirzel. https://hegel.net/hegelkinder/Karl_Hegel_Leben_Und_Erinnerungen.pdf.
Hösle, Vittorio. 1984. Wahrheit und Geschichte: Studien zur Struktur der Philosophiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon. 1. Edition. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog.
Köhnke, Klaus Chr. 1993. Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
Losurdo, Domenico. 1988. Hegel und das deutsche Erbe. Philosophie und nationale Frage zwischen Revolution und Reaktion. Pahl-Rugenstein Nachfolger.
Michelet, Karl Ludwig. 1837. Geschichte der letzten Systeme der Philosophie. 1st ed. Vol. 1. Berlin. https://hegel.net/michelet/Michelet1837-Geschichte_der_letzten_Systeme_der_Philosophie_Bd1.pdf.
———. 1838. Geschichte der letzten Systeme der Philosophie. 1st ed. Vol. 2. Berlin. https://hegel.net/michelet/Michelet1838-Geschichte_der_letzten_Systeme_der_Philosophie-Bd2.pdf.
Rosenkranz, Karl. 1844. Hegels Leben. 1st ed. Berlin. https://hegel.net/rosenkranz/Rosenkranz1844-Hegels_Leben.pdf.
Strauss, David Friedrich. 1835. Das Leben Jesu. 1st ed. Vol. 1. Tübingen. https://hegel.net/strauss/Strauss1835-Das_Leben_Jesu-Bd1-1Auflage.
Trendelenburg, Adolf. 1840a. Logische Untersuchungen. 1st ed. Vol. 1. Berlin: Gustav Bethge. https://hegel.net/trendelenburg/Trendelenburg1840-Logische_Untersuchungen-Bd1-1Aufl.pdf.
———. 1840b. Logische Untersuchungen. 1st ed. Vol. 2. Berlin: Gustav Bethge. https://hegel.net/trendelenburg/Trendelenburg1840-Logische_Untersuchungen-Bd2-1Aufl.pdf.
———. 1843. Die logische Frage in Hegels System. 1st ed. Leipzig: F.A. Brockhaus. https://hegel.net/trendelenburg/Trendelenburg1843-Die_logische_Frage_in_Hegels_System.pdf.

  1. Für die zeitgenössiche Kritik an Hegel siehe (Burkhardt 1993). Burkhardt behandelt die Kritiken an Hegels Logik, die noch zu Lebzeiten Hegels veröffentlicht wurden, so u.a. die Kritiken von Schelling, C.H.Weisse, I.H.Fichte, Braniss, Fries, Herbart, Schubarth, und untersucht diese auf Stimmigkeit. Dabei werden auch die Verteidigungen (und Gegenkritiken) von Hegel selbst und seinen Schülern mit behandelt. Dabei wird sorgfältig herausgearbeitet, wie Hegel missverstanden wurde und wie diese Kritiken ihrerseits defizitär zum in der Logik erreichten sind. Es ist interessant zu sehen, dass seit jener Zeit eigentlich keine neuen Argumente hinzugekommen sind. Alle wichtigen grundsätzlichen negativen Argumente/Vorurteile gegen Hegels Grundkonzeptionen sind schon damals versammelt gewesen und ihrerseits kritisiert worden.↩︎

  2. Für die Kritik von Hegels Logik im 19.Jahrhundert nach Hegels Tod siehe (Hansen 2000) - Hansen bespricht praktisch alle universitären nachhegelianischen deutschen Logiken des 19.Jahrhunderts. Er zeigt dabei, dass diese Logiken auf Missverständnissen von Hegel beruhen und gegenüber diesem defizitär sind. Er baut dabei teilweise auf (Köhnke 1993) - s.u. - auf.↩︎

  3. https://hegel.net/erdmann/↩︎

  4. https://hegel.net/michelet/↩︎

  5. https://hegel.net/rosenkranz/↩︎

  6. https://hegel.net/en/hegelianism_in_uk.htm↩︎

  7. https://hegel.net/en/hegelianism_in_america.htm↩︎

  8. siehe der Abschnitt zu Berlin in der Hegel.net Hegelbiographie↩︎

  9. https://hegel.net/hegelwerke/↩︎

  10. Ausführlich, mit vielen weiterführenden Literaturhinweisen bei (Eßbach 1988). Zur Herausbildung der Junghegelianer und der beteiligten Personen, geordnet nach Orten, siehe dort die nützliche Übersicht S.40-42. (Online Version der Seiten 40-41).↩︎

  11. (Strauss 1835), dieses und weitere Werke zum Download↩︎

  12. Die Geschichte der hegelianischen Schule ist ausführlich dargestellt in den Büchern der zeitgenössischen Hegelschüler und Philosophieprofessoren C.L. Michelet (Michelet 1837, 1838) und J.E. Erdmann (Erdmann 1866, 1870).↩︎

  13. Ich denke an Heine 1830 “Reisebilder, Vierter Teil, Die Stadt Lucca, Kapitel 2” und Heine 1834 “zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland,” Drittes Buch.↩︎

  14. Zu den enttäuschten Erwartungen der Jungeheglianer zum Thronwechsel siehe (Eßbach 1988) S.121ff.↩︎

  15. Ausführliche Quellen des “Drachensaat” Zitates↩︎

  16. Die Liste der Zuhörer Schellings in Berlin entnehme ich http://www.hs-augsburg.de/~harsch/germanica/Chronologie/19Jh/Schelling/sch_intr.html↩︎

  17. zu Trendelenburg siehe (Köhnke 1993) S.35-57, zu dessen stark unterschätzten Rolle in der Philosophiepolitik in Preussen siehe dort insbesondere S.43: “Nicht als philosophischer Schriftsteller, sondern als langjähriger Professor an Deutschlands größter Universität, als deren mehrmaliger Rektor und vor allem als preußischer Kulturpolitiker und ’Mann der Schulaufsicht’ hat Trendelenburg, wie der Reformpädagoge Paul Petersen gesagt hat ‘ein volles Menschenalter die Berliner Universität beherrscht’ und das ’preußische Schulwesen weithin seinem Einfluss unterstellen können’. Köhnke stellt auch Trendelenburgs Philosophie und seine Kritik an Hegel dar und kritisiert diese. Ähnlich auch (Hansen 2000), S.46-52.↩︎

  18. (Trendelenburg 1840a, 1840b)↩︎

  19. (Trendelenburg 1843)↩︎

  20. (Eßbach 1988)↩︎

  21. https://hegel.net/bauer/, siehe auch die nächste Fußnote↩︎

  22. (Bauer 1841). Zum Kontext der “Posaune” siehe (Eßbach 1988) S.124-130, zur weiteren Einordnung von Bauer im Kontext der anderen Junghegelianer siehe auch [Eßbach1988], z.B. S.173ff.↩︎

  23. Siehe (Hegel 1900)↩︎

  24. (Köhnke 1993) wertet sehr viel Material aus, welches vor ihm niemand ausgewertet hat und zeigt dabei u.a. einen Zusammenhang zwischen dem “Katzenjammer” und der Unterdrückung nach der gescheiterten 1848er Revolution einerseits und der Abwendung von Hegel anderseits.↩︎

  25. (Haym 1857)↩︎

  26. (Losurdo 1988)↩︎

  27. (Rosenkranz 1844)↩︎

  28. Siehe dazu https://hegel-system.de/de/v2133abstaende.htm und https://hegel.net/en/ceres.htm↩︎

  29. Vittorio Hösle: “Moralische Aufklärung und Institutionenverfall - Zur Dialektik von Aufklärung und Gegenaufklärung”↩︎

  30. (Hösle 1984). Hösle kritisiert in seinem guten, aber leider auch teuren Buch im 1.Teil generell das Konzept einer Philosophiegeschichte als angeblicher einziger Aufwärtsentwicklung, in der jede spätere Philosophie automatisch die vorherige widerlegt - ein Konzept, das fälschlich auch Hegel zugeschrieben wird, dass dieser aber so gerade NICHT vertreten hat - und entwirft seinerseits ein fünfstufiges zyklisches Gegenmodell, welches er dann im 2.Teil ausführlich paradigmatisch auf die klassische griechische Philosophie anwendet.↩︎

  31. siehe https://hegel-system.de/de/dpdf.htm↩︎