Zwar enthalten die Vorlesungen über die Philosophiegeschichte ca. 35 Seiten zur orientalischen Philosophie,
aber sie fallen aus unserer systematischen Darstellung heraus, weil Hegel sie nicht zur Philosophiegeschichte selbst zählt,
sondern in der Einleitung behandelt. Darum wird sie hier von uns gesondert erwähnt.




Hegel-Original-Text:

Orientalische Philosophie [nur die Einleitung]


“Das Erste ist die sogenannte orientalische Philosophie.

Aber sie tritt nicht in den Körper und Bereich unserer Darstellung ein;
sie ist nur ein Vorläufiges,
von dem wir nur sprechen, um davon Rechenschaft zu geben,
warum wir uns nicht weitläufiger damit beschäftigen
und in welchem Verhältnisse es zum Gedanken,
zur wahrhaften Philosophie steht.

Wir sollen, indem wir von der orientalischen Philosophie sprechen,
von der Philosophie sprechen;
aber in dieser Rücksicht ist zu bemerken,
daß das, was wir orientalische Philosophie nennen,
weit mehr die religiöse Vorstellungsweise der Orientalen überhaupt ist
- eine religiöse Weltanschauung,
der es sehr naheliegt, für Philosophie genommen zu werden.

Wir haben geschieden die Gestaltung,
in der das Wahre die Form der Religion erhält,
und die Form, die es durch den Gedanken in der Philosophie erhält.

Die orientalische Philosophie ist religiöse Philosophie;
und es ist der Grund anzugeben, warum es näher liegt,
die orientalische Religionsvorstellung auch als Philosophie zu betrachten.


Bei der römischen, griechischen und christlichen Religion
denken wir weniger an Philosophie;
sie sind weniger dazu geeignet.

Die griechischen und römischen Götter sind Gestaltungen für sich,
ebenso Christus und der Gott der Juden.

Wir bleiben hierbei im Ganzen stehen, halten sie nicht sogleich für Philosopheme;
und es wird ein eigenes Geschäft,
solche mythologische oder christliche Gestaltungen
erst zu interpretieren,  zu verwandeln in Philosopheme.

Bei den orientalischen Religionen hingegen werden wir viel unmittelbarer
an die philosophische Vorstellung erinnert, es liegt näher.

Der Unterschied hiervon ist nun darin begründet:

Das Prinzip der Freiheit der Individualität
tritt im griechischen und noch mehr im christlichen Elemente hervor.

Die griechischen Götter erscheinen daher sogleich individualisiert, ((138))
in der Gestalt von Personen.

Wo hingegen das Moment der Subjektivität
nicht hervorgetreten ist, wie im Orient,
sind die religiösen Vorstellungen nicht individualisiert,
sondern sie haben den Charakter allgemeiner Vorstellungen,
die daher als philosophische Vorstellungen, philosophische Gedanken erscheinen;
denn sie sind im Elemente der Allgemeinheit
und haben das Übergewicht an Allgemeinheit.

Zwar haben sie auch individuelle Gestalten, wie Brahma, Wischnu, Schiva;
aber die Individualität ist nur oberflächlich,
und so sehr, daß, wenn man glaubt,
man habe es mit menschlichen Gestalten zu tun,
sich dies doch sogleich wieder verliert und ins Maßlose erweitert.

Die Individualität, weil die Freiheit mangelt, ist nicht fest,
und wo die allgemeinen Vorstellungen auch individuell gebildet sind,
ist es doch nur oberflächliche Form.


Dies ist der Hauptgrund, weshalb die orientalischen Vorstellungen
uns gleich als philosophische Gedanken erscheinen.

Wie wir bei den Griechen von einem Uranos, Kronos
- der Zeit, aber auch schon individualisiert - hören,
so finden wir bei den Persern Zerwana Akarana,
aber es ist die unbegrenzte Zeit.

Wir finden Ormuzd und Ahriman als ganz allgemeine Weisen, Vorstellungen;
sie erscheinen als allgemeine Prinzipien,
die so Verwandtschaft mit der Philosophie zu haben scheinen
oder selbst als Philosopheme erscheinen.

Der Ausdruck orientalische Philosophie
wird besonders von der Periode gebraucht,
wo diese große allgemeine orientalische Anschauung
das Abendland berührt hat
- das Land der Begrenzung, des Maßes,
wo der Geist der Subjektivität überwiegend ist.

Besonders sind in den ersten Jahrhunderten des Christentums
- einer bedeutenden Epoche -
diese großen orientalischen Anschauungen
in das Abendland nach Italien gedrungen
und haben in der gnostischen Philosophie
das Maßlose zu treiben angefangen,
in dem okzidentalen Geiste,
bis er in der Kirche wieder dazu gekommen ist,
das Übergewicht zu erhalten und so das Göttliche fest zu bestimmen. ((139))


Dies ist also der eine Punkt:
dieser bleibende Charakter des Allgemeinen,
der die Grundlage ist im orientalischen Charakter.

Das zweite ist nun der nähere Inhalt der orientalischen Religionen.

Gott, das Anundfürsichseiende, Ewige
ist im Orient mehr im Charakter des Allgemeinen aufgefaßt
wie auch das Verhältnis der Individuen dazu.

In den orientalischen Religionen ist das Hauptverhältnis dies,
daß die eine Substanz als solche nur das Wahrhafte sei
und das Individuum keinen Wert in sich habe
und nicht gewinnen könne, insofern es sich erhält gegen das Anundfürsichseiende;
es könne vielmehr nur wahrhaften Wert haben
durch die Ineinssetzung mit dieser Substanz,
worin es dann aufhört, als Subjekt zu sein, verschwindet ins Bewußtlose.

Dies ist das Grundverhältnis in den orientalischen Religionen.

In der griechischen und christlichen Religion
weiß sich dagegen das Subjekt frei und soll so erhalten sein.

Indem so das Individuum sich für sich losreißt, für sich ist,
ist es dann allerdings weit schwerer,
daß der Gedanke sich von dieser Individualität losmacht und sich konstituiert.

Der an sich höhere Standpunkt der griechischen Freiheit des Individuums,
dies frohere, feine Leben erschwert dem Gedanken seine Arbeit,
die Allgemeinheit geltend zu machen.

Im Orient hingegen ist schon in der Religion
das Substantielle für sich die Hauptsache, das Wesentliche
(und Rechtlosigkeit, Bewußtlosigkeit der Individuen unmittelbar damit verbunden);
und diese Substanz ist allerdings eine philosophische Idee.

Auch die Negation des Endlichen ist vorhanden,
aber so, daß das Individuum nur zu seiner Freiheit gelangt
in dieser Einheit mit dem Substantiellen.

Insofern in dem orientalischen Geiste
die Reflexion, das Bewußtsein zum Unterschiede kommt durch den Gedanken,
zur Bestimmung von Prinzipien,
so stehen dann solche Kategorien, bestimmte Vorstellungen
unvereinigt mit dem Substantiellen.

Entweder ist vorhanden die Zertrümmerung alles Besonderen,
ein Maßloses - die orientalische Erhabenheit;
oder insofern auch das bestimmt für sich Gesetzte erkannt wird,
so ist es ein ((140)) Trockenes, Verständiges, Geistloses,
das nicht den spekulativen Begriff in sich aufnehmen kann.

Zum Wahren kann dies Endliche nur werden als versenkt in der Substanz;
von ihr verschieden gehalten, bleibt es dürftig.

Wir finden daher nur trockenen Verstand bei den Orientalen,
ein bloßes Aufzählen von Bestimmungen,
eine Logik wie eine alte Wolffische Logik.

Es ist wie in ihrem Kultus: ein Versenktsein in die Andacht
und dann eine ungeheure Menge von Zeremonien, von religiösen Handlungen,
und auf der anderen Seite die Erhabenheit des Maßlosen, worin alles untergeht.


Es sind nun zwei orientalische Völker, deren ich Erwähnung tun will:
die Chinesen und die Inder.”