“Der Weg der Phänomenologie des Geistes” Ein einführender Kommentar, Suhrkamp 2000

Auf den »wahren« Geist der unmittelbaren Identifikation von Individualität und sittlicher Ordnung bzw. Institution folgt der entfremdete Geist.

Seine Darstellung in der Phänomenologie ist eines der längsten und selber noch einmal ein reich gegliedertes Kapitel (vgl. das Inhaltsverzeichnis).

Trotz der Berühmtheit, die der Begriff der Entfremdung vor allem durch Marx erlangt hat, ist der Inhalt dieses Kapitels viel weniger bekannt als derjenige der ersten Teile des Buches, vor allem des Selbstbewußtseinskapitels.

Es wird sich auch zeigen, daß Marx nur an wenige Aspekte des Hegelschen Begriffs der Entfremdung anknüpfen konnte.

Dieser Begriff hat bei Hegel zudem eine viel positivere Bedeutung als der Entfremdungsbegriff sowohl seines »Nachfolgers« Marx wie seines »Vorläufers« Rousseau.

»Entfremdung« ist ein notwendiger Prozeß der Differenzierung der Kultur.

Der Begriff des Fremden ist zunächst nur relativ zur einfachen, naiven Form der Wahrheit des Geistes zu verstehen, die die antike Sittlichkeit darstellt.

Zur Differenzierung gehört aber das Moment der Trennung und des Umschlags, der Verwandlung in sein Gegenteil.

Dazu gehört die Umkehrung von Intentionen und Unterscheidungen.

Dieser Prozeß ist ja der phänomenologischen Erfahrung von Anfang an eigen.

Er wird hier zum Kennzeichen einer ganzen Kulturstufe.

Hegel gibt in der Einleitung dieses Kapitels (PhG, 359-362) einen Überblick über die kommende Entwicklung, in dem mindestens vier verschiedene Begriffe von Entfremdung eine Rolle spielen.

  1. Der erste wird aus dem Rückgriff auf die Erfahrung des Rechtszustandes als Charakter der (spät-)römischen Welt verständlich.

Er besagt, daß die Welt »an sich die Durchdringung des Seins und der Individualität« ist, die Individualität oder das Selbst sich in ihr aber »nicht erkennt« (360).

Zwar ist die Welt des Rechts ein System von Regeln,  also »Werk des Selbstbewußtseins«, und die Handlungsfreiheit der Rechtsperson ist in ihr der oberste Zweck.

Aber zugleich gibt es in dieser Welt nur Machtkämpfe der Individuen, die in Freiheitsverlust und Despotie enden.

Dieser Begriff von Entfremdung als Herrschaft des Werkes über seine Hervorbringer ist derjenige, an dem Marx vor allem anknüpft, wenn er die Herrschaft des durch die Arbeit produzierten Kapitals über seine Urheber darstellt.

Das Individuum erkennt die von ihm zu Zwecken seiner Selbstverwirklichung (durch Arbeit) geschaffene kulturelle - bei Marx im wesentlichen ökonomische - Welt nicht mehr als ein Produkt und eine »Vergegenständlichung« seiner Kräfte und Tätigkeiten wieder.

Es wird von ihr beherrscht, und seine Intentionen kehren sich gegen es selbst.

Dadurch werden vor allem auch die zwischenmenschlichen Verhältnisse »verkehrt«, statt der wesensgemäßen Ergänzung der Individuen zu »Gattungswesen« tritt die wechselseitige Ausnutzung und Ausbeutung (vgl. Lange; Meszaros).

  1. Der zweite Begriff ergibt sich aus der Erfahrung der »Auflösung« dieser Welt des Privatrechts in eine neue substantielle Sittlichkeit, historisch gesehen die germanischchristliche Welt.

Hegel erinnert an das Kapitel »unglückliches Bewußtsein«, in dem das Selbstbewußtsein ja seiner eigenen Unwirklichkeit (Sündigkeit, Sterblichkeit) bewußt war und sich durch Askese und Andacht dem Ideal des Gottmenschen anzunähern suchte.

Der göttliche Geist sollte im Menschen wirklich werden nicht durch die Bejahung der Person im Recht, sondern durch die Entäußerung des endlichen Selbst und die »Entfremdung der Persönlichkeit«.

Hier bedeutet Entfremdung also Selbstverleugnung und Umwandlung in einen »neuen Menschen« und die geistige Gemeinschaft der Kirche.

Dieser Begriff knüpft an Rousseaus Begriff der alienation an.

Rousseau versteht den Gesellschaftsvertrag - mit deutlich religiöser Metaphorik – als eine alienation totale, eine Umwandlung des natürlichen Individuums zum Staatsbürger durch Entäußerung seiner natürlichen Rechte und Verwandlung in staatliche Gewährleistungen.72 72 Vgl. Gesellschaftsvertrag, Buch 1, Kap. 6. 190

Die beiden bisherigen Bedeutungen von Entfremdung sind entgegengesetzt: auf der eine Seite die Einheit von Selbst und geistiger »Substanz« durch Entäußerung der Person - auf der anderen die Unmöglichkeit, sich in der selbst hervorgebrachten Welt wiederzuerkennen.

Wie im unglücklichen Bewußtsein, so ist auch im Geist beides auf zwei »Welten« verteilt.

Wir haben es ja auch mit derselben Epoche zu tun, die jetzt wirklich als eine Epoche in ihrer kulturellen Gesamtentwicklung betrachtet wird.

Die ZweiWelten- und ZweiReicheLehre aber ist das Charakteristikum der christlicheuropäischen Kultur.

Sie setzt darin allerdings die Unterscheidung von göttlichem Gesetz und Staat in der griechischen Sittlichkeit fort und vertieft sie.

  1. Das Verhältnis der beiden Welten gegeneinander ist nun der dritte Begriff von Entfremdung:

Der Geist, die Einheit von Selbst und Wirklichkeit, Individuum und Gemeinschaft, ist »nicht nur Eine Welt, sondern eine gedoppelte, getrennte und entgegengesetzte«.

Und die beiden Welten verhalten sich noch einmal wechselseitig als Umkehrung der anderen:

»Die Gegenwart hat unmittelbar den Gegensatz an ihrem Jenseits, das ihr Denken und Gedachtsein, sowie dies am Diesseits, das seine ihm entfremdete Wirklichkeit ist.« (361)

Auch diese wechselseitige Umkehrung ist uns aus der »verkehrten Welt« von Kraft und Verstand sowie vom unglücklichen Bewußtsein her schon bekannt.

Wie bei der »verkehrten Welt« geht es um zwei Auffassungen der Welt, die sich spiegelbildlich verhalten, von der aber - gewissermaßen »platonisch« - eine die wahre und die andere ihre unwahre Erscheinung sein soll: eine Unterscheidung, die in der Phänomenologie immer wieder scheitert und zu einer Vertauschung der Inhalte und der »Wahrheitswerte« führt.

Dieses »in einander Umschlagen« der Gegensätze ist gegenüber ihrer klaren Scheidung und Gegenüberstellung eine »Entfremdung«.

Der Topos einer gespaltenen Welt und einer Verklärung des Diesseits im unwirklichen Jenseits ist in die Religionskritik der Hegelschen Linken (L.Feuerbach, B.Bauer, K.Marx etc.) eingegangen (vgl. Löwith (Hg.)).

  1. Die beiden Welten erweisen sich aber in der Entwicklung auch in sich selber als entfremdet, und zwar im Sinne der Umkehrung und Auflösung ihrer eigenen Momente.

Das ist der vierte Begriff von Entfremdung.

Historisch entspricht dem die Entstehung der modernen Subjektivität von der Reformation über die Aufklärung bis zur Französischen Revolution.

Hegel sieht hier eine Parallele zum Untergang der griechischen Welt durch die Emanzipation des Individuums in den spätantiken Philosophien und im römischen Recht.

Die Subjektivität ist die »negative Macht«, die den mittelalterlichen Glauben und die Unterscheidung zwischen Diesseits und Jenseits auflöst.

Aber das Resultat ist diesmal nicht mehr »die einzelne Person«, sondern das »allgemeine Selbst, das den Begriff erfassende Bewußtsein« (362).

Der Begriff ist die Einheit der drei Momente Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit.

Die erste Form dieses Bewußtseins des Begriffes ist das moralische Bewußtsein, das ein universales Gesetz in der Einzelheit des Gewissens »spezifiziert«.

Man kann diesen vierten Begriff der Entfremdung als Auflösung der geistigen Ordnungen des Glaubens und der traditionalen Sitten- und Moralordnung mit Rousseaus Kulturkritik vergleichen.

Allerdings thematisiert Hegel weniger den Verlust der Authentizität und Selbstübereinstimmung des Individuums durch die »Konkurrenzgesellschaft« als vielmehr die durch die individuelle Kritik veranlaßte Auflösung der klaren religiösen und sittlichen Unterscheidungen.

Innerhalb dieser spielt für ihn Rousseaus Kulturkritik als ein geschichtlicher Faktor selber eine wichtige Rolle.

In Rousseaus Diskurs über die Ungleichheit ist Entfremdung der Verlust der Identität, der Autonomie und des Glückes des Individuums.

Die Entwicklung der Kultur, des sozialen Zusammenlebens, der Arbeitsteilung und der Konkurrenz stört das ursprüngliche Gleichgewicht zwischen Bedürfnis und Bedürfniserfüllung, Selbstverständnis und Handlung.

Der moderne Mensch der Stadtkulturen des 18. Jahrhunderts lebt nicht aus sich heraus, in Übereinstimmung mit seiner Natur und seinen authentischen Erfahrungen und Zielsetzungen.

Er hängt vielmehr in seinem Selbstbewußtsein vom Vergleich mit anderen, von Moden und Erwartungen, von Vergleichen und künstlichen Unterschieden ab.

Wenn Hegel den ersten der drei Hauptteile dieses Abschnittes »Die Welt des sich entfremdeten Geistes« nennt, dann sind dafür offenbar die ersten drei Bedeutungen von Entfremdung leitend.

Die beiden folgenden Teile (Die Aufklärung, Die absolute Freiheit und der Schrecken) haben es dagegen mit der Auflösung des Gegensatzes der beiden Welten und der Emanzipation des Subjekts zu tun.

Erstaunlich ist aber, daß Hegel in diesem ersten Abschnitt, der sich historisch mit dem Mittelalter und der frühen Neuzeit befaßt, systematisch nicht etwa das Verhältnis von Staat und Kirche, sondern von Staat und Gesellschaft behandelt - so, wie im ersten Teil (Der wahre Geist) das Verhältnis von Familie und Staat sowie Mann und Frau behandelt wurde.

Erst im zweiten Teil geht es um das Verhältnis von Glauben und Wissen, Religion und Wissenschaft.

Dabei ist Hegels Darstellung oft von scharfer Polemik sowohl gegen eine flache Aufklärung wie gegen eine bloße Gefühlsreligion oder eine romantische Kulturkritik.

Aber zugleich enthält sie schon Grundzüge einer richtigen Theorie des objektiven und absoluten Geistes.

Im dritten Teil geht es historisch um die Französische Revolution, systematisch um eine höhere Stufe der Verwirklichung der Freiheit des Individuums im Staat bzw. im allgemeinen Willen.

Man muss Hegels Texte hier immer auf den Ebenen der Theorie des Geistes (Recht, Sitte, Religion), der Geschichtsphilosophie und der Erkenntnistheorie lesen, denn es geht ihm um die Überwindung des Gegensatzes von Wissen und Gegenstand.

Hinzu kommt noch die Vorwegnahme der Kategorien, deren systematische Entwicklung die Wissenschaft der Logik ist.

I. Die Welt des sich entfremdeten Geistes

Anders als das antike Bewußtsein fühlt sich das christliche in seiner Welt nicht zu Hause.

Die »Welt der Wirklichkeit« ist die unerlöste, die Welt »seiner Entfremdung«.

Seine wahre Heimat ist die Einheit mit Gott in der Welt des »reinen Bewußtseins«.

Hegel thematisiert hier nicht nur die religiöse Version dieses Gegensatzes, sondern generell das Verhältnis der Ordnung des Gedankens zur Ordnung der wirklichen Welt.

Zum »Geist« gehören nicht bloß soziale Verhältnisse und ihre mentalen Korrelate, sondern immer auch ein Wissen von den Grundlagen und Grundgesetzen der geistigen und der natürlichen Welt.

Dies kann eine Religion, eine Philosophie oder ein System von Wissenschaften sein.

Es kann sich erklärend, kritisch, verwerfend, affirmierend usw. zur »realen« sozialen Welt verhalten.

Zwischen verschiedenen Formen dieser kognitiven Systeme können wiederum Gegensätze und kritische Verhältnisse auftreten, wie dies für die Neuzeit im sich vertiefenden Gegensatz zwischen Religion und Wissenschaft der Fall ist.

Diese Gegensätze spiegeln sich dann wiederum in den Mentalitäten und im individuellen Bewußtsein.

Sie können dieses bis zur »Schizophrenie« entzweien oder in Konflikt bringen - auch das nennt Hegel »Entfremdung«.

Dies ist die »andere Form der Entfremdung, welche eben darin besteht, in zweierlei Welten das Bewußtsein zu haben, und beide umfaßt« (363).

Die spezielle Form des Gegensatzes, die darin besteht, in der geistigen Welt als einer noch nicht »gegenwärtigen« seine wahre »Identität« zu haben, also die »Flucht aus der wirklichen Welt«, nennt Hegel »Glauben«.

Er unterscheidet den Glauben von der Religion als »Selbstbewußtsein des absoluten Wesens, wie es an und für sich ist« (ebd.).

Dies ist offenbar Hegels eigener, wahrer Begriff von Religion als Selbsterkenntnis der wirklichen, präsenten Ordnung der Welt im Menschen.

Daß sich dieser Begriff als immanentes Telos der Religionsgeschichte nachweisen läßt, soll das Religionskapitel zeigen.

a. Die Bildung und ihr Reich der Wirklichkeit

Daß der Begriff der »Bildung« nicht für die antike Welt - man denke an die Bedeutung der Paideia in der griechischen Kultur (vgl. Jaeger) -, sondern für die christliche zentral sein soll, ist sicher verwunderlich.

Als ein Moment kam die Entäußerung der natürlichen Interessen und die Unterordnung unter den Staat ja bereits in Hegels Charakterisierung der sittlichen Welt der Griechen vor.

Aber dieses Moment bleibt der »glücklichen Harmonie« der privaten und öffentlichen Interessen untergeordnet.

Auch fehlt der griechischen Welt der Gedanke einer zukünftigen Vollendung und Versöhnung der geistigen Welt mit dem Individuum.

Für Hegel ist »Bildung« ein zweiseitiger Prozeß der »Sozialisierung« des Individuums einerseits und der Verwirklichung geistiger Ordnungen andererseits:

»Wodurch das Individuum hier Gelten und Wirklichkeit hat, ist die Bildung.

Seine wahre ursprüngliche Natur und Substanz ist der Geist der Entfremdung des natürlichen Seins.

Diese Entäußerung ist daher ebenso Zweck als Dasein desselben; sie ist zugleich das Mittel oder der Übergang sowohl der gedachten Substanz in die Wirklichkeit als umgekehrt der bestimmten Individualität in die Wesentlichkeit.« (364)

Diese Bildung gehört zur Natur des Menschen, der ebenso ursprünglich Natur- wie Kulturwesen ist.

Schon dies ist eine eindeutige Gegenwendung gegen Rousseau und gegen die kynische Tradition des Natur-Kultur-Gegensatzes.73 73 Vgl. Rousseau, Ungleichheit; sowie Siep, Anthropologie.

Der Mensch muss sich kultivieren, mit seinem Willen schon seine körperlichen Funktionen koordinieren, um leben und überleben zu können.

Und er fügt sich dabei unbewußt in soziale Verhaltensmuster ein.

Hegel unterscheidet nun zwei grundsätzliche Weisen, wie das Individuum sich bildet, kultiviert, und wie die Verhaltensmuster und Institutionen in den Individuen lebendig werden: den Reichtum und die Staatsmacht.

Man könnte auch sagen: Ökonomie oder Erwerbsgesellschaft und Staat.

Damit haben wir nach der Familie nun mit der bürgerlichen Gesellschaft und dem Staat die wesentlichen Bestandteile der Sittlichkeit in Hegels eigener Sozialphilosophie zusammen.

Hegel unterteilt die Sittlichkeit in seiner Rechtsphilosophie seit 1817 ja in Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat.74

Aber der »Reichtum« umfaßt in der Phänomenologie auch noch die vorbürgerliche Feudalgesellschaft.

Die Auflösung des Unterschieds zwischen dem privaten Erwerb und dem »öffentlichen Dienst« des Adligen als königlicher Vasall ist für Hegel einer der Gründe für den Zusammenbruch des Ancien regime in Europa, besonders in Frankreich.

Beides, Reichtum und Staatsmacht, ist in einem doppelten Sinne »Bildung«:

»Die Staatsmacht ist, wie die einfache Substanz, so das allgemeine Werk; - die absolute Sache selbst, worin den Individuen ihr Wesen ausgesprochen und ihre Einzelheit schlechthin nur Bewußtsein ihrer Allgemeinheit ist« (367 f.) - d. h. im Staat verwirklicht sich das Individuum als ein zur Gemeinschaft und zum öffentlichen Gebrauch seiner Vernunft fähiges.

Aber es verwirklicht sich gerade dadurch, daß es sich dem allgemeinen Willen unterordnet, den Gesetzen gehorcht und sein Privatwohl wenn nötig zurückstellt.

Als Reichtum dagegen ist das Allgemeine »das beständig werdende Resultat der Arbeit und des Tuns Aller, wie es sich wieder in den Genuß Aller auflöst.

In dem Genüsse wird die Individualität zwar für sich oder als einzelne, aber dieser Genuß selbst ist das Resultat des allgemeinen Tuns, so wie er gegenseitig die allgemeine Arbeit und den Genuß aller hervorbringt.« (368)

Hegel folgt hier dem Verständnis des »wealth of nations«, wie es durch die heute klassisch genannte Nationalökonomie von Adam Smith und anderen Autoren des 18. Jh. geprägt wurde.

Er wendet es zugleich auf eine Interpretation der vormodernen Gesellschaft an.

Staatsmacht und Reichtum haben nicht nur eine verschiedene Beziehung auf die Individuen, sondern auch eine unterschiedliche kategoriale Struktur: die Staatsmacht ist primär Selbstzweck, unwandelbar, an sich bestehend und gültig.

Der Reichtum hat die Struktur des FüranderesSein, er ist nur in der Bewegung der Produktion und des Tausches wirklich, er hat die Bedeutung des Mittels für andere Zwecke der Individuen und des Gemeinwesens.

Aber wie immer in der Phänomenologie erweisen sich die Versuche der Trennung zwischen solchen Kategorien als vergeblich, sie offenbaren eine Struktur des IneinanderUmschlagens, und entsprechend lösen sich die Grenzen der jeweiligen sozialen Ordnungen auf.

Historisch zeigt sich das an der Auflösung der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Adelsgesellschaft, in der der Bereich der Produktion im wesentlichen auf den oikos bzw. das personale Gefolgschaftsverhältnis der leibeigenen Produzenten zu ihrem adligen Beschützer begrenzt war.

Das staatliche Verhältnis war dagegen das uneigennützige, in dem der »Vasall« die eigene Identität gerade in der Aufopferung für den König (das Land) fand.

Diese Trennung löste sich in dem Maße auf, in dem die Privatinteressen mit dem Staatsdienst verknüpft wurden - durch die Käuflichkeit von Adelsprivilegien, die damit verbundenen persönlichen Einkünfte, die Entstehung von Staatsdomänen, das Erheben von Steuern für den Privatbesitz der Krone usw.

Diese Entwicklungen sind nichts Zufälliges, sondern zeigen die unhaltbare, abstrakte Trennung der beiden sittlichen Ordnungen.

Nach Hegels Rechtsphilosophie müssen beide »Integrationsformen« jeweils die andere in sich enthalten und deren Aufgaben übernehmen.

In der bürgerlichen Gesellschaft muss neben den »invisible hand«-Prozessen auch die bewußte Förderung des Gemeinwohls institutionalisiert sein, durch berufsständische Organisationen und durch administrative Maßnahmen der Wirtschafts- und Sozialpolitik.

Im Staat muss umgekehrt sowohl für die materielle Existenz des Individuums wie für seine Rechte und seine sittliche Verwirklichung in öffentlichen Aufgaben Sorge getragen werden.

Das alles fehlt der vorrevolutionären europäischen Gesellschaft, und es kommt auch in der Revolution nicht ausdrücklich in den Blick.

Die Entwicklung der vorrevolutionären Gesellschaft ist aber nicht nur eine Auflösung der Institutionen, sondern vor allem auch der sittlichen Maßstäbe des Guten und Schlechten, des Edlen und des Gemeinen.

Diese Verwirrung zeigt sich dann in der Tat in den Zuständen der adligen und bürgerlichen Scheinmoral, die Rousseau und Diderot kritisieren.

b. Der Glaube und die reine Einsicht

Der zweite Teil der »Bildung« hat es mit den entsprechenden Prozessen in der »weltanschaulichen« Sphäre zu tun:

Die erste Form des individuellen Verhaltens zu den Welterklärungen und Sittenordnungen (beides ist in Mythos und Religion ja untrennbar verbunden) ist die unmittelbare Anerkennung der offenbarten übernatürlichen Ordnung im religiösen Glauben.

Die zweite dagegen der Anspruch, eine solche Ordnung durch eigene Einsicht zu erkennen oder doch zumindest zu verifizieren.

Beide Verhaltensweisen können die geistige Ordnung auch noch einmal unterschiedlich auf die wirkliche Welt beziehen: entweder in einem Rückzug aus der Welt in die reine Sphäre des Wahren und des asketischen Dienstes an ihm - wie im mittelalterlichen Mönchtum.

Oder im Versuch, die wirkliche Welt der geistigen Ordnung anzupassen - wie im Anspruch auf kirchliche Leitung der weltlichen Angelegenheiten.

Hegel zeigt auch hier wieder die gegenseitigen Ansteckungs- und Verflechtungsprozesse:

Der Glaube entwickelt eine eigene Theologie, eine gedankliche Rechtfertigung, die auf Vernunft und Einsicht gerichtet ist.

Dadurch gibt er in sich einer Rechtfertigungsforderung Raum, die sich in der Reformation als Abweisung der Autorität und als Anspruch auf authentische Prüfung und Erkenntnis der Wahrheit und des Heils gegen den naiven Glauben, das »ruhige reine Bewußtsein des Geistes« (397), kehrt.

Die Einsicht ihrerseits erfährt selbst einen Umschlag der zunächst intuitiven, subjektiven Wahrheits- und Heilsgewißheit, die sich von der Welt abkehrt und die weltlichen Ordnungen bestehen läßt (Luthers »zwei Reiche«).

Sie wird nämlich zur Forderung, daß jedes Bewußtsein in jedem Inhalt sein Selbstbewußtsein wiederfindet:

»Diese reine Einsicht ist also der Geist, der allem Bewußtsein zuruft: seid für euch selbst, was ihr alle an euch selbst seid, -vernünftig.« (398)

  1. Die Aufklärung

Damit ist die Welt und der Geist der Aufklärung erreicht, in der sich der Gegensatz zwischen Glauben und Einsicht oder Religion und Wissenschaft erst entwickelt - aber nach Hegel auch wieder aufhebt.

Diese Entwicklung hat zwei Teile, der erste ist der Kampf der Aufklärung mit dem Aberglauben - also dem Glauben gerade aus seiner Gegenperspektive gesehen.

In diesem Kampf zeigt sich, daß die Aufklärung sich von ihrem Gegenspieler nicht unterscheiden kann.

Das Resultat ist zunächst, daß der Glaube zum bloßen Sehnen oder zu einer Gefühlsreligion wird.

Dadurch wird er selber mit der Aufklärung gleich.

Denn diese entlarvt alle unmittelbaren Gewißheiten und reduziert im Deismus alle Dinge darauf, Produkte eines unbegreiflichen höchsten Wesens zu sein, das in den Lauf der Welt nicht eingreift.

Nach diesem »Sieg« der Aufklärung zerfällt sie aber in sich in Gegensätze.

Im zweiten Abschnitt schildert Hegel die verschiedenen Fraktionen der Aufklärung, vor allem den Gegensatz zwischen Materialismus und Deismus sowie als dessen Synthese das Nützlichkeitsdenken.

Damit geht jedoch der Anspruch der Aufklärung, ein auf reine Vernunft (Einsicht) gegründetes System zu sein, verloren:

Sie wird eine Art neuer Skeptizismus, der nur in dem Nachweis der Nützlichkeit aller Dinge und Einrichtungen eine jeweils einzelne Gewißheit erzeugt.

So stehen individuelle Gewißheit und geistige Substanz wieder unvermittelt gegenüber. 77 Für die Religionskritik der Aufklärung hat Hegel vermutlich in erster Linie die theoretischen Schriften d’Holbachs im Auge (Das entschleierte Christentum und System der Natur, vgl. dazu die Anm. der Hg. PhG (1988), 604). Weit verbreitete Versionen der Priesterkritik finden sich in den Romanen Voltaires und Diderots (vgl. Voltaire, z.B. Amabeds Briefe und Candide oder der Optimismus; vgl. Diderot, z. B. Die Nonne und Rameaus Neffe). In der deutschen Literatur könnte man an Wieland denken (z. B. an seinen Roman Die Abderiten). Zur Rezeption der französischen Aufklärung in diesem Kapitel vgl. Hyppolite, Genese, 413 ff.

a. Der Kampf der Aufklärung mit dem Aberglauben

Im Kampf der Aufklärung mit dem Aberglauben zeigt sich, daß der »Gegner«, der Glaube, von der Wahrheit der Aufklärung nicht grundsätzlich verschieden ist.

Dieser Gegner hat verschiedene Gestalten: er ist zum einen das von der Priesterschaft und den darauf gestützten Despoten betrogene Bewußtsein der Massen, zum anderen dieses verführende »Priesterbewußtsein« selber.

Das erstere muss ohnehin mit dem Bewußtsein des Aufklärers wesensverwandt sein, weil es sonst nicht durch bloßes Öffnen der Augen zur wahren Einsicht gelangen könnte.

Das Bewußtsein der Massen ist »an sich« gesund, es ist zur reinen Einsicht fähig und wird sich dieser auch nicht widersetzen, wenn es von der Herrschaft und Verführung der Priester und Despoten befreit ist.

Dem Bewußtsein des Priesters oder Theologen ist die Aufklä-rung insofern gleich, als sie selber den Glauben in der verdinglichenden Weise mißversteht, die sie am »Aberglauben« kritisiert.

Die Aufklärung erkennt nämlich nicht, daß die Vorstellungen des Glaubens eine unvollkommene Form der Wahrheit sind, daß das Absolute ein sich verendlichendes, sich selbst konkretisierendes Denken ist.

Sie versteht nicht, was das religiöse (»unglückliche«) Bewußtsein nach der Phänomenologie schon erfahren hat.

Sie nimmt Symbole für gegenständliche Dinge und den als Geist verstandenen Gott als ein »vergängliches Ding«:

»Gegen den Glauben aber begeht sie schon darin das Unrecht, seinen Gegenstand so aufzufassen, daß er der ihrige ist.

Sie sagt hiernach über den Glauben, daß sein absolutes Wesen ein Steinstück, ein Holzblock sei, der Augen habe und nicht sehe, oder auch etwas Brotteig, der, auf dem Acker gewachsen, von Menschen verwandelt darauf zurückgeschickt werde.« (409)

Sie mißversteht den Sinn des Glaubens, alles Endliche sub specie aeternitatis zu sehen und sich selbst mit dem Unendlichen zu vereinigen.

Sie trennt und verdinglicht selber das Absolute und das endliche Bewußtsein, das Unwandelbare und die wandelbaren Dinge usw.

Die eigene »wahre« Theorie der Aufklärung ist zwar selber eine Art von »Idealisierung«, indem sie die Dinge auf Gesetze und die Welt auf einen nicht weiter zu bestimmenden göttlichen Urheber zurückführt.

Aber diese »Wahrheit« ist ihr selbst noch nicht bewußt.

Sie wird in den verschiedenen Versionen der Aufklärung auch selber noch »verdinglicht« und in feste Gegensätze entzweit.

Das Resultat des Kampfes, in dem die Aufklärung ihren Gegner einerseits mißversteht, andererseits die Differenz zu ihm verliert, wird von Hegel zunächst von der Seite des Glaubens her resümiert (Ende von a).

Der Glaube, der sich den Argumenten der Vernunft und den Maßstäben der individuellen Einsicht öffnet, verliert dabei den Inhalt seiner Vorstellungen, die der wissenschaftlichen Kritik nicht standhalten:

»Der Glaube hat hierdurch den Inhalt, der sein Element erfüllte, verloren und sinkt in ein dumpfes Weben des Geistes in ihm selbst zusammen.

Er ist aus seinem Reiche vertrieben, oder dies Reich ist ausgeplündert, indem alle Unterscheidung und Ausbreitung desselben das wache Bewußtsein an sich riß und seine Teile alle der Erde als ihr Eigentum vindizierte und zurückgab [..]

Indem er ohne Inhalt ist und in dieser Leere nicht bleiben kann, oder indem er über das Endliche, das der einzige Inhalt ist, hinausgehend nur das Leere findet, ist er ein reines Sehnen ..

Der Glaube ist in der Tat hiermit dasselbe geworden, was die Aufklä-rung, nämlich das Bewußtsein der Beziehung des an sich seienden Endlichen auf das prädikatlose, unerkannte und unerkennbare Absolute; nur daß sie die befriedigte, er aber die unbefriedigte Aufklärung ist.« (423 f.)

Mit anderen Worten: Die von abergläubischer Theologie »gereinigte« Gefühlsreligion und der abstrakte Deismus der Aufklärung unterscheiden sich nicht mehr.

Nur ist die Aufklärung dabei in ihren Intentionen »befriedigt«.

Dieser »Sieg« über den Glauben erweist sich aber als bloßer Schein, wie der nächste Abschnitt zeigt.

b. Die Wahrheit der Aufklärung

Hegel diskutiert die deistische und materialistische Version der Aufklärung als eine Art Zerfall der siegreichen Partei in Fraktionen:

»Die eine Aufklärung nennt das absolute Wesen jenes prädikatslose Absolute, das jenseits des wirklichen Bewußtseins im Denken ist, von welchem ausgegangen wurde; die andere nennt es Materie.« (426)78 78 Es Hegt nahe, bei der materialistischen »Partei« an Helvetius und d’Holbach zu denken, vielleicht auch an Diderot. Für den Deismus schlagen die Herausgeber in PhG (1988) Robinet vor (Von der Natur), man könnte auch an Voltaire denken.

Beide widersprechen sich, sind aber im Grunde auch ununterscheidbar.

Denn der von der Welt getrennte deistische Gott ist dem Bewußtsein gegenüber ein »äußeres Seiendes .. und hiermit als dasselbe, was reine Materie genannt wird« (427).

Der Materialismus aber abstrahiert bei seinem Materiebegriff von allen sinnlichen Eigenschaften und macht dadurch die Materie zum »prädikatslosen Einfachen, Wesen des reinen Bewußtseins«.

Als solche ist sie vom »reinen Denken« nicht zu unterscheiden.

Die Aufklärung ist aber auch wirkliche, unterscheidende und besondere Einsichten erzeugende Tätigkeit.

Darin ist reines Denken und Materialität vereint.

Das ist die dritte Version der Aufklärung, das Nützlichkeitsdenken, in dem für Hegel die »reine Einsicht ihre Realisierung vollendet« (428)79. 79 Auch hier dürfte Helvetius im Vordergrund stehen (vgl. PhG (1988), 6oji.). Das Nützlichkeitsdenken war aber auch in der deutschen Populäraufklärung sehr verbreitet (vgl. etwa Campe, Robinson der Jüngere).

Das Nützliche ist »ein an sich Bestehendes oder Ding«, aber zugleich nur »reines Moment« bzw. »absolut für ein anderes«.

Im Nützlichkeitsprinzip als Gedanken der Welterklärung (subjektive Teleologie) und der Weltgestaltung (Einrichtung der Welt als für das Individuum und die Gesellschaft nützlich) ist für Hegel sogar die Einheit der beiden Welten verwirklicht: der Welt des reinen Gedankens und der Wirklichkeit als dem Individuum gegeben und gewiß: »Das Nützliche ist der Gegenstand, insofern das Selbstbewußtsein ihn durchschaut und die einzelne Gewißheit seiner selbst, seinen Genuß (sein Fürsichsein) in ihm hat; es sieht ihn auf diese Weise ein, und die Einsicht enthält das wahre Wesen des Gegenstandes (ein Durchschautes oder für ein Anderes zu sein).. das Selbstbewußtsein hat ebenso unmittelbar die allgemeine Gewißheit seiner selbst, sein reines Bewußtsein in diesem Verhältnisse, in welchem also ebenso Wahrheit wie Gegenwart und Wirklichkeit vereinigt sind.

Beide Welten sind versöhnt und der Himmel auf die Erde herunter verpflanzt.« (430f.)

Es wird sich im letzten Teil des entfremdeten Geistes zeigen, daß diese Einheit nur durch den Prozeß der Negation der Individualität bzw. seine Reduktion auf das sozial Nützliche zu realisieren ist.

Das ist Gegenstand des Abschnittes »Die absolute Freiheit und der Schrecken«, in dem sich Hegel mit der Französischen Revolution auseinandersetzt.

  1. Die absolute Freiheit und der Schrecken

Die Aufklärung hatte in der allgemeinen Theorie der Nützlichkeit die Welt völlig durchsichtig gemacht und auf den Menschen, das vernünftige selbstbewußte Wesen, bezogen.

Aber die Nützlichkeit ist immer noch »Prädikat des Gegenstandes, nicht Subjekt selbst oder seine unmittelbare und einzige Wirklichkeit« (431).

Zu einer solchen Konzeption kommt es erst in der Rechts- und Staatstheorie Rousseaus und der Französischen Revolution, die beide aus der Aufklärung hervorgegangen sind.

Jetzt erst wird die Realität als das Wirken des allgemeinen Willens gefaßt.

Der allgemeine Wille ist aber nichts anderes als das unmittelbare Zusammenwirken der einzelnen Willen.

Das Individuum ist »seiner reinen Persönlichkeit und darin aller geistigen Realität bewußt, und alle Realität ist nur Geistiges; die Welt ist ihm schlechthin sein Wille, und dieser ist allgemeiner Wille.

Und zwar ist er nicht der leere Gedanke des Willens, der in stillschweigende oder repräsentierte Einwilligung gesetzt wird, sondern reell allgemeiner Wille, Willen aller Einzelnen als solcher.« (432)

Hegel geht offenbar auf Rousseaus Theorie der direkten Gesetzgebung durch alle Bürger ein - ohne freilich zu erwähnen, daß Rousseau nur den Vollbürgern (von bis zu sechs Bürgerklassen) diese Rechte einräumt und sie auch nur im Abstimmen über Gesetzesvorlagen der Regierung bestehen.

Gegen alle Theorien eines hypothetischen Vertrages (auch bei Kant) geht es nicht um die »Vorstellung des Gehorsams unter selbstgegebenen Gesetzen«, sondern um die »Wirklichkeit, selbst das Gesetz zu geben«, denn wo das Selbst nur »vertreten ist, ist es nicht« (435).

Das Bewußtsein, als Einzelner unmittelbar die Gesetze der sozialen Welt zu geben, ist ein uneingeschränktes Freiheitsbewußtsein.

Eine solche absolute Freiheit ist unwiderstehlich, sie »erhebt sich auf den Thron der Welt, ohne daß irgendeine Macht ihr Widerstand zu leisten vermöchte« (433).

Hegel spielt nicht nur auf den Siegeszug der Revolution und Napoleons an.

Er vertritt vielmehr auch in seiner eigenen Rechts- und Geschichtsphilosophie die Ansicht, daß das Freiheitsbewußtsein der Völker unwiderstehlich ist (vgl. EPW (1830), § 482).

Darin erweist sich für ihn, daß die Substanz der Geschichte geistig ist und daß Geistiges sich notwendig verwirklicht, nicht eine bloße Idee (im gewöhnlichen Sinne des Wortes) oder Forderung ist.

Die neuzeitlichen Revolutionen in England (1688), den USA (1776) und in Frankreich (1789) zeigen für Hegel diese Verwirklichung der Rechte des Individuums als eine unwiderstehliche Kraft der Geschichte.

Sie verwirklichen die individuellen Abwehrund zunehmend auch die Mitwirkungsrechte in immer radikalerer Form.

Die Französische Revolution als »praktizierte Aufklärung« fordert die unmittelbare Wirksamkeit des individuellen Willens, nicht nur sein Recht auf »Einsicht«.

Für diese Realität zerstört sie - wie die Aufklärung die Ordnung der Welt in die reine Nützlichkeit und die Abstraktion des etre supreme auflöste (PhG, 345) - die Gestaltung der Gesellschaft, die Gewaltenteilung, die Ständeordnung (»Massen des Arbeitern«) und schließlich auch Familie, Gesellschaft und Staat als die »realen Wesen« der »realen Welt der Bildung« (435).

Als so ungegliedert und gestaltlos kann sich aber der allgemeine Wille nicht mehr zum »Werk« werden und der einzelne sich nicht darin wiederfinden.

Dasselbe gilt für die Handlung:

Handeln kann der allgemeine Willen nur durch Taten einzelner, die ihn »exekutieren«.

Dadurch aber wird die Handlung wieder exklusiv, »beschränkt« den Anteil der anderen und drückt nicht den allgemeinen Willen aus (vgl. 435).

Die unmittelbare Vereinigung von allgemeinem und individuellem Willen ist unmöglich, wie schon die individuelle Synthese des Gesetzes des Herzens.

Der Allgemeinwille muss ja zugleich frei von besonderen Interessen und individuellen Meinungen und doch unmittelbarer Ausdruck des individuellen Willens sein.

Wenn diese nicht durch den Habitus, die Denk- und Verhaltensweisen von Gruppen und Institutionen geprägt und mit dem Wohl des Ganzen verbunden sind, dann wird es entweder einen Kampf von Interessen oder eine Herrschaft des allgemeinen Willens über die einzelnen geben.

In der Französischen Revolution hat sich die letztere Tendenz durchgesetzt.

Der allgemeine Wille trennte sich, vor allem in der jakobinischen Phase, in »abstrakte Extreme«, nämlich in die »einfache unbiegsame kalte Allgemeinheit und in die diskrete absolute harte Sprödigkeit und eigensinnige Punktualität des wirklichen Selbstbewußtseins« (436).

Nach der »Vertilgung der realen Organisation« ist das einzelne Selbst der »einzige Gegenstand«, der dem von den wirklichen Willen längst entfernten Allgemeinwillen noch gegenübersteht.

Hegel interpretiert die Entstehung des jakobinischen Totalitarismus und schließlich des Terrors der Hinrichtungen zwar sehr spekulativ, aber doch mit sehr viel Einsicht in die Strukturen der totalen Herrschaft, wie sie sich in den Totalitarismen dieses Jahrhunderts, sei es faschistischer, kommunistischer oder militaristischer Art wiederholt haben.

Die Zerschlagung der gesellschaftlichen Organisationen, die Unterdrückung der Parteien, die Verdächtigungen von Abweichlern usw. - das alles wird hellsichtig entwickelt.

Ein Beispiel:

»Verdächtigwerden tritt daher an die Stelle oder hat die Bedeutung und Wirkung des Schuldigseins, und die äußerliche Reaktion gegen diese Wirklichkeit, die in dem einfachen Innern der Absicht liegt, besteht in dem trockenen Vertilgen dieses seienden Selbsts, an dem nichts sonst wegzunehmen ist als nur sein Sein selbst.« (437)

Hegel stellt diese Vorgänge aber nicht historisch oder politikwissenschaftlich dar, sondern führt sie zugleich auf ihren kategorialen Hintergrund zurück.

Selbst die Napoleonische Wende der Französischen Revolution ist »kategorial« zu verstehen.

Die Negation des abstrakten Allgemeinen richtet sich gegen das freie Selbstbewußtsein, das ihr eigenes Prinzip ist.

Dies ist Sichselbstgleichheit, reines Denken und Wollen.

Die Negation dieses Prinzips richtet sich auch gegen die abstrakte Gleichheit des allgemeinen Willens.

Eine auf sich selbst bezogene Negation ist aber bei Hegel immer das Prinzip einer Selbstunterscheidung.

Sie führt im allgemeinen Willen zu einer neuen »Organisation der geistigen Massen« (438).

Diese Organisation und Disziplinierung ist erneut das Werk der Todesfurcht, aber nun einer kollektiven.

Die Individuen »welche die Furcht ihres absoluten Herrn, des Todes, empfunden, lassen sich die Negation und die Unterschiede wieder gefallen, ordnen sich unter die Massen und kehren zu einem geteilten und beschränkten Werke, aber dadurch zu ihrer substantiellen Wirklichkeit zurück« (ebd.).

Daß die Individuen nur im »beschränkten« Tun an einer dauerhaften und gerechten Staatsordnung teilnehmen können, ist ein deutlicher Rückgriff auf die Staatstheorie des platonischen Staates (Politeia), in der Gerechtigkeit als ein Tun des Seinigen in der Zugehörigkeit zu besonderen Ständen verstanden wird.

Hegel selber vertritt allerdings eine andere Ständekonzeption und vor allem eine freie Wahl des Berufsstandes, für den der Einzelne sich qualifizieren kann.

Eine solche »neuplatonische« Konkretisierung überwindet und vollendet die abstrakten Willenstheorien der Aufklärung.

Hegel versteht Napoleon als den Wiederhersteller einer solchen gegliederten Gesellschaft, in der die Berufsstände in ein organisches Rechtssystem integriert werden.

Napoleon ist sowohl der Vollstrecker der abstrakten Rechtsordnung des Code Napoleon wie der Gründer »organischer«, ständischer und gewaltenteiliger Verfassungen, wie 1806 gerade in den oberitalienischen Staaten.80 80 Vgl. Rosenzweig, Staat, Bd. 1, 193 f

Napoleons Schlachten und Siege, die Hegel bei der Vollendung der Phänomenologie störten,81 waren nicht zufällig, sondern ebenfalls notwendige Entwicklungen des freien Geistes. 81 Vgl. den Brief an Schelling, i.Mai 1807, Briefe 1, 161 f.

Nach dem Sturz Napoleons fällt allerdings auch dessen Rechts- und Staatsordnung noch unter den Begriff des Abstrakten, weil er die konkreten Kulturen und Religionen der unterworfenen Völker nicht mit der vernünftigen Rechtsverfassung versöhnen konnte, was für Hegel seit dem Krieg in Spanien (1808) sichtbar wird.

Hegel bleibt in der Phänomenologie mit seinem Resümee der staatlichen und rechtlichen Entwicklung der Freiheit des Geistes allerdings vorsichtig und kurz.

Und seine gleichzeitigen Überlegungen zur vernünftigen Verfassung der konstitutionellen Monarchie in der Realphilosophie von 1805/06 (vgl. JSE III) hat er nicht veröffentlicht.

Die Entwicklung des Geistes geht in der Phänomenologie weiter auf dem Gebiet der Moralität.

Hegel sieht die deutsche Entwicklung der Philosophie und Literatur seiner Zeit als Weiterentwicklung der Integration von individueller und allgemeiner Freiheit an.

Wie sieht der Übergang aus?

Hegel knüpft zunächst wieder an die Erfahrung des Terrors an:

»Für das Bewußtsein verwandelt sich die unmittelbare Einheit seiner mit dem allgemeinen Willen, seine Forderung, sich als diesen bestimmten Punkt im allgemeinen Willen zu wissen, in die schlechthin entgegengesetzte Erfahrung um.

Was ihm darin verschwindet, ist das abstrakte Sein oder die Unmittelbarkeit des substanzlosen Punkts, und diese verschwundene Unmittelbarkeit ist der allgemeine Wille selbst, als welchen es sich nun weiß,.. insofern es reines Wissen oder reiner Wille ist.« (440)

Das Individuum weiß sich selbst, aber nicht unmittelbar, sondern durch Unterordnung seiner privaten Meinungen und Wünsche, als eins mit dem allgemeinen Willen: »der allgemeine Wille ist sein reines Wissen und Wollen, und es ist allgemeiner Wille, als dieses reine Wissen und Wollen.« (Ebd.)

Dieses reine Wissen und Wollen des Individuums ist das moralische Wollen.

Die »absolute Freiheit« geht »aus ihrer sich selbst zerstörenden Wirklichkeit in ein anderes Land des selbstbewußten Geistes über..

Es ist die neue Gestalt des moralischen Geistes entstanden.« (441)

Das neue Land ist eine neue Dimension, aber eine solche, die sich auch in einem anderen geographischen Land entwickelt, der deutschen Philosophie und Kunst.