redaktionelle Vorbemerkungen

Die erste Frage ist: was ist der Gegenstand unserer Wissenschaft? Die einfachste und verständlichste Antwort auf diese Frage ist die, daß die Wahrheit dieser Gegenstand ist.1

Dieser Artikel ist mein Versuch, einige Aspekte dieses Hegel-Zitats mit meinen eigenen Worten zu erklären.

Da die Wahrheit in der Form des Begriffs ausgedrückt wird, wie im Folgenden gezeigt wird, schlage ich vor, dass Sie auch mein “Begriffs-Tutorial” in Verbindung mit diesem Artikel lesen.

Und da Hegel später in dem oben zitierten Absatz auch die Skeptiker anspricht, die sagen, dass es keine Erkenntnis der Wahrheit geben kann2, sollten Sie vielleicht auch meinen anderen Artikel “Unwissenheit und Skeptizismus” lesen, um ihn besser zu verstehen und am meisten davon zu profitieren. Sie können alle drei Artikel in beliebiger Reihenfolge lesen, aber Sie werden sehen, dass die Artikel miteinander verbunden sind.

In allen drei Artikeln versuche ich, Ihnen einige Erkenntnisse zu vermitteln, die ich bei der Lektüre von Hegel gefunden habe. Natürlich können andere zu abweichenden Erkenntnissen kommen, aber ich hoffe, dass Sie sie trotzdem nützlich finden werden.

In gewisser Weise stellen die Artikel zusammen auch eine Herausforderung an das Konzept des “Relativismus” und der “alternativen Fakten” dar.

Dieser Text wurde zum ersten Mal in meiner “Hegel-Werkstatt” schrittweise zwischen 1997 und 2007 veröffentlicht. Er wurde erstmals am Juli 2020 ins Englische übersetzt und dabei überarbeitet und mit Fussnoten versehen. Im April 2021 wurde er ins Deutsche zurückübersetzt.

Die klassische Theorie der Wahrheit - Die Korrespondenz zwischen Theorie und Objekt

In der klassischen Theorie der Wahrheit (“Korrespondenztheorie der Wahrheit”3), die jeder intuitiv befürwortet und die Hegel einst für “von dem höchsten Werte” nannte4 (auch wenn er sie kritisiert und erweitert / sublimiert) und die die anderen Theorien der Wahrheit zumindest berücksichtigen müssen, ist ein Satz wahr, wenn er eine “Entsprechung” “in der Wirklichkeit” hat (“der Fall ist,” wie Wittgenstein und der logische Atomismus5 sagen, die Wirklichkeit adäquat “widerspiegelt,” wie Lenin und in seinem Gefolge der klassische Marxismus-Leninismus sagen).

Heute - am Endpunkt einer langen Suche in der Geschichte der Philosophie bis in unsere Zeit nach einem immer verfeinerten und komplexeren Wahrheitsbegriff - mag die klassische Theorie einigen Berufsphilosophen eher naiv erscheinen. Dennoch findet es jeder, auch Berufsphilosophen, in seinem gewöhnlichen Leben lohnenswert, bei Zweifeln, ob draußen ein UFO gelandet ist, das Licht ausgeschaltet ist, die Kinder sich die Zähne geputzt haben, heute Sonntag ist usw., einfach erst einmal “nachzusehen.”

Der Gegenstand (das “Objekt”) ist dabei also in dieser Hinsicht ( ganz im Sinne der Empiristen und Materialisten - siehe unten) der Maßstab der Wahrheit.

Wie und wo soll man den Vergleich anstellen?

Eine Frage, die bleibt, ist allerdings, wie man diesen Vergleich zwischen Vorstellungen/Modellen “in unserem Kopf” einerseits, in der “Realität” (“außerhalb unseres Kopfes”) andererseits praktisch durchführen kann. Vergleichen setzt voraus, dass es eine gemeinsame Basis gibt, auf der ein Vergleich stattfinden kann. Abgesehen von den spezifischen Problemen, die im Einzelfall manchmal auftreten:

Findet der Vergleich innerhalb oder außerhalb unseres Kopfes/Geistes statt? Oder an einem dritten Ort? In jedem Fall stellt sich die Frage, wie das getrennte “Innen” und “Außen” zum Vergleich zusammengebracht (und verglichen, was eine gemeinsame Basis voraussetzt) werden kann.

Um diese Probleme zu umgehen, wenden einige moderne Theorien nur noch formale Kriterien an, die diesen Vergleich nicht mehr erfordern, wie z.B. die “Kohärenztheorie der Wahrheit”6, nach der es nur darauf ankommt, dass sich die Theorie nicht selbst widerspricht.

Auflösung

Diese verschiedenen Fragen lassen sich lösen, indem deutlich gemacht wird, dass der Vergleich (zwischen der Außenwelt - vermittelt durch Sinneseindrücke - und der Innenwelt (Hegels Theorie des theoretischen Geistes gibt Auskunft über die Komplexität der ablaufenden Prozesse) in unserem Kopf (genauer: in unserem Geist) stattfindet (und daraus lässt sich die Differenz zwischen Innen- und Außenwelt ableiten, diese Differenz wird also nicht geleugnet).

So erweitert sich das Konzept der Korrespondenz zwischen Subjekt und Objekt tatsächlich zur “Kohärenztheorie der Wahrheit” in dem Sinne, dass die klassische Theorie darin “aufgehoben”7 wird (denn sowohl die Erfahrungen des Subjekts aus seinen Sinnen und Erlebnissen, seinen Lektüren, den Zeugenberichten und Gesprächen mit anderen, den Ergebnissen von Experimenten usw. müssen mit den Begriffen dieser Subjekte in Übereinstimmung gebracht werden (siehe das “Begriffs-Tutorial”).

Hegels Theorie der Wahrheit wird also im Wikipedia-Artikel zu Recht unter diese “Kohärenztheorie der Wahrheit” subsumiert. Übrigens kann ich auch argumentieren, dass die verschiedenen “pragmatischen Theorien der Wahrheit”8 ebenfalls unter die “Kohärenztheorie der Wahrheit” subsumiert werden können, weil die praktische Erfahrung der Fabilität, ein Zeichen der “Inkohärenz” ist, die zur Selbstkorrektur führt (John Dewey9 z.B. war ein ehemaliger Hegelianer, so dass es keine Überraschung ist, dass seine Theorien zumindest in einigen Teilen mit dem Hegelianismus kompatibel sind. Wenn mein Verständnis von Hegel hier richtig ist, dann liegt Popper also grundlegend falsch, wenn er glaubt, dass Hegel eine Theorie der Wahrheit vertritt, in der man systematisch nichts als wahr oder falsch beweisen kann10) .

Konsequenz: die logische Verarbeitung der vielen Aspekte

Es ist nun nicht nur die Aufgabe, Objekt (Sinnes-/Messdaten) und Subjekt (Modell/Vorstellung/Konzept) in Übereinstimmung zu bringen, sondern alles, was uns von außen erreicht (einfache Sinnesdaten, Messdaten, Erfahrungen, Berichte anderer, Theorien über den Gegenstand in Büchern usw.) und unsere eigenen “Zutaten” dazu (weitere Schlussfolgerungen, Ansichten, Gefühle, Intuition usw.) zu einem logisch konsistenten Ganzen zu verarbeiten.

Einfach gesagt: Das Ganze muss tatsächlich (logisch) zusammenpassen.

Im Denken, in der Wissenschaft und in der Wahrheit hat die Logik die Aufgabe, das gegebene, vielschichtige Material so logisch zu ordnen, dass es ein vollständiges Ganzes wird (dazu gehört auch die Erkenntnis, dass an der einen oder anderen Stelle Informationen/Fakten/Material fehlen, das dann vorerst leer bleibt oder - je nach Möglichkeit - nachgefragt werden muss, z.B. in Form von Experimenten oder anderen Untersuchungen und Recherchen).

Diese verschiedenen Aspekte, Sichtweisen etc. sollten nicht einfach im Sinne einer “Collage” aneinander geklebt werden, sondern zu einem logisch geordneten Ganzen verarbeitet werden.

Übrigens1: Natürlich kann das Material auch anders arrangiert werden, die freie Assoziation von Träumen, die Inszenierungen der Künstler etc. zeigen dies. Einerseits ist aber der logische Zusammenhang der Objekte nicht unabhängig von ihnen, so dass man, wenn man sie weglässt, etwas Relevantes übersieht und somit nicht das Ganze hat. Andererseits sind die Inszenierungen der träumerischen und künstlerischen Phantasie offensichtlich eher subjektiver (als objektiver) Natur (d.h. sie verdanken sich mehr dem Subjekt als dem Objekt) und werden daher den Objekten nicht gerecht (und im Alltag erwartet jeder, dass man durch das Nachdenken über einen Gegenstand diesen besser erkennt, diesem gerechter wird).

Übrigens2: Hegels “Seinslogik” beschreibt die Seite der Phänomene (die wiederum nicht weggelassen werden können und, wie sich herausstellt, die Grundlage für den weiteren Prozess sind), seine “Wesenslogik” beschreibt den Prozess der “logischen Verdauung.”

Einwände: Unwissenheit und Skepsis

Auf die Frage, ob es jenseits des jeweiligen menschlichen “Erfahrungsraumes” noch eine andere “Wirklichkeit” gibt, die nicht berücksichtigt wird und daher nicht mit dem menschlichen Denken über die Gegenstände übereinstimmt, habe ich in “Unwissenheit und Skeptizismus” ausführlich geantwortet:

Erstens ist dieser Unterschied nur erfunden, denn wenn er - das ist ja der Ausgangspunkt dieses skeptischen Zweifels - jenseits der menschlichen Erfahrung liegt (also seine Ursache gerade nicht in einer menschlichen Erfahrung haben kann), dann stellt sich also die Frage, wie man überhaupt davon wissen könnte (wie man den Vergleich anstellt, zwischen dem was wir Erleben/Wissen über den Gegenstand mit dem Erleben/Wissen über den Gegenstand, was wir per Definition über ihn nicht erfahren/wissen können, was offensichtlich unmöglich ist. Daher hat dieser eingebildete Unterschied auch offensichtlich keine praktische Konsequenz (ich kann niemals in die Verlegenheit kommen, herauszufinden, dass ich falsch liege) und ist auch als theoretischer Gedanke offensichtlich irrelevant (da er als Unterscheidungsmerkmal zwischen einer richtigen und einer falschen Theorie offensichtlich nutzlos ist, denn so wie dieser grundsätzliche Abweichungsverdacht konstruiert ist, lässt sich damit alles gleichermassen kritisieren, egal wie gut oder schlecht die Gedanken zu einem Gegenstand sind).

Man mag (zu Recht) großen Respekt vor jeder “heiligen” absoluten Wahrheit haben, weil man sicher ist, dass sie zu anspruchsvoll ist für unseren bescheidenen, begrenzten menschlichen Verstand.

(Ironischerweise sind sich solche Skeptiker zwar auf diese Weise sicher, dass es so etwas wie eine absolute Wahrheit nicht geben kann, aber zumindest die “Tatsache”/Wahrheit, dass es keine absolute Wahrheit gibt, wird von ihnen dabei so behandelt, als wäre sie selbst eine Art absolute Wahrheit, was eine Art Selbtswiderspruch darstellt. (wie Hegel bemerkte: wenn man seinen Zweifel auf den Zweifel selbst anwendet, verschwindet der Zweifel11).

Im wirklichen Leben zweifelt man aber nie einfach alles an und hält damit jede Theorie/jedes Konzept für eben unbewiesen und möglicherweise falsch, sondern man muss Entscheidungen treffen, versucht also, zumindest eine relative Wahrheit zu finden, die dem, was man weiß und erlebt, gerecht wird und versucht umgekehrt Fehler zu vermeiden. Das ist genau das, was wir hier tun wollen (und was Hegel nach meinem Verständnis in seiner Logik und in seinem Werk als solchem zu tun versucht: zu versuchen, das, was wir in unserer Praxis tun, zu untersuchen, zu reflektieren, zu verstehen und zu erklären).

Stattdessen löst sich der Einwand dahingehend auf, doch alles Aspekte mit zu berücksichtigen und dabei auch vorsichtig vor “vorschnellen” Antworten zu sein und offen für die Korrektur von Irrtümern und Aufnahme von Erweiterungen (Was sich aber alles unterm Strich wieder auf die Berücksichtigung aller Aspekte - “die Wahrheit ist das Ganze” - zurückführen lässt).

Das Wahre ist das Ganze12

Im Folgenden werden wir nun noch einmal einige der typischen Aspekte und Argumente für Pluralismus, Empirismus usw. betrachten, so dass man für sich daran prüfen kann, ob in der Tat der hier gegebene Wahrheitsbegriff diese angemessen mit fasst

(denn offensichtlich muss eine so gefasste Wahrheitstheorie in der Tat darauf abzielen auchd die anderen Konzepte von Wahrheit mit in sich aufheben).

Paradox - Verwunderung als Ausgangspunkt des Denkens/Lernens:

Der Antrieb zum Philosophieren (dem Bedürfnis, etwas nicht mehr einfach als unproblematisch gegeben hinzunehmen, sondern darüber nachzudenken) bot die Verwunderung, sagt Aristoteles13, und in der Tat, wenn sich etwas als problematisch erweist, ein Paradoxon/Widerspruch (z.B. von neuen Phänomenen, die mit den bestehenden Theorien nicht erklärt werden können) auftaucht, fühlen wir uns mit diesem Zustand unzufrieden und streben danach, dass solche Probleme gelöst werden (so ist eine klassische pädagogische Motivation, die von Lehrern angewandt wird, ihren Schülern etwas so zu präsentieren, dass sie darauf aufmerksam gemacht werden, dass sie es nicht erklären können, damit sie sich bewusst werden, dass ihnen dieses Wissen fehlt und es erklären wollen und so seine Erklärung lernen).

Der angestrebte Fortschritt besteht dann natürlich darin, dass eine Lösung gesucht wird, die das vorhandene Wissen und das neue erklärungsbedürftige Phänomen, das mit dem bisher Bekannten nicht erklärt werden kann (sondern ihm vielleicht sogar scheinbar widerspricht), in eine neue Erklärung auf einer neuen Ebene “aufhebt.” (der Aufstieg von der Newton’schen Physik zur Einstein’schen Physik ist das klassische Beispiel, aber dies geschieht in viel kleinerem Maßstab auch ständig in unserem täglichen Leben).

Pluralität der Sinne

Man sagt, dass die Sinne keine Gewissheit geben, weil sie getäuscht werden können, aber in der Praxis ist es meist so, dass wir zumindest von einem Sinn Informationen über die Täuschung des anderen Sinnes erhalten: wir spüren, dass wir eine optische Täuschung nicht berühren können; wir sehen umgekehrt, dass der gefühlte Reiz unserer Haut nicht von dem ausgeht, was wir vermuten, sondern von etwas anderem usw.

Die verschiedenen, sich vordergründig widersprechenden Sinnesdaten wollen wir in unserem Geist zu einem überzeugenden Gesamtbild zusammenfügen.

Zeugenaussagen

Wer kennt sie nicht, die verschiedenen Zeugenaussagen in einem Krimi/Detektivroman oder in anderen Recherchen (”Oral History” oder auch im Alltag, z.B. bei einem Streit zwischen Geschwistern). Berühmt wurde der Film “Rashamon”14 (oder neuerdings - und trivialer - “Die Rotkäppchenverschwörung”15). Auch hier geht es darum, aus den verschiedenen, sich vordergründig widersprechenden Zeugenaussagen ein befriedigendes, die Unterschiede erklärendes Gesamtbild zu gewinnen (wobei natürlich auch hier berücksichtigt werden muss, dass hier auch die unbewusste oder bewusste Verfälschung von Aussagen in Frage kommt, da es hier individuelle Gründe der Zeugen geben kann, von der “Wahrheit” - jeweils aus der eigenen Perspektive betrachtet - in ihrem jeweiligen Bericht abzuweichen. Aber auch das sollte sich am Ende einer befriedigenden Zusammenschau rekonstruieren lassen, so etwa am Abschluss eines klassichen Agathe Christi Kriminalromans).

Empirismus

Beim Übergang von der Scholastik zum Empirismus (zumindest wie er uns heute aus der Perspektive des Empirismus erinnert wird) wird betont, dass in der Scholastik nur die Autorität der Schrift (Bibel, Aristoteles) relevant war, man danmals also gar nicht in der “Wirklichkeit” nachgeschaut hätte (Illustration: die angebliche Weigerung der Theologen, durch Galileo Galileis Fernrohr zu schauen, um die Monde des Jupiter selbst zu beobachten16).

Durch diesen Dogmatismus wird der Widerspruch (mit einer möglicherweise abweichenden “Realität”) vermieden, indem man etwas ausblendet, gar nicht hinschaut, nicht überprüft (und Abweichendes, falls es dennoch so auftritt, dass man es nicht ignorieren/verdrängen kann, dann konsequent verbietet: Inquisition).

Aber auch ganz unabhängig davon, wie ein religiöser oder politischer “Totalitarismus” oder “Fundamentalismus” mit “abweichenden/unangenehmen Fakten” umgeht: Es kommt einfach vor - auch und gerade heutzutage, wo man offener hinschauen will -, dass etwas “in der Theorie” gut aussieht (was dann vorsorglich “Hypothese” oder “Modell” genannt wird), und dann, bei der Überprüfung oder auf der Basis von inzwischen verbesserten, feineren Messmethoden (so können viele Differenzierungen in den fortgeschritteneren physikalischen Theorien nur auf der Basis von verfeinerten Messungen wahrgenommen und entschieden werden), zu Ergebnissen kommt, die der Theorie widersprechen, und die dann erklärt und integriert werden müssen, was von einfachen Änderungen/Erweiterungen bis hin zu “Paradigmenwechseln” reichen kann.

(Aber natürlich lassen sich auch im realen Wissenschaftsbetrieb, der nur von fehlbaren Menschen betrieben wird, unangenehme Tatsachen wegerklären und ignorieren, ein Feld u.a. für die Wissenschaftssoziologie, das die teilweise Berechtigung der eher pessimistischen Beschreibungen z.B. von Kuhn zeigt. Allerdings sollte man dieses unwissenschaftliche Verhalten zumindest nach den hier genannten Maßstäben für ein korrektes wissenschaftliches Vorgehen aufzeigen und kritisieren können).

Skepsis, Selbstzweck und Modelle

Aus dieser Erfahrung kann der Skeptiker einen Vorbehalt gegen bestehende Erklärungen ableiten:

Auch diese bestehenden Erklärungen eines Dings können sich später als unzureichend erweisen. Als “Mahnung” oder “Erinnerungsposten” für diese möglichen sich später herausstellenden Abweichung postulieren wir “das Ding an sich,” das ebenfalls von unseren Erklärungen abweichen kann. Entsprechend stellen sich die bestehenden Erklärungen in dieser skeptischen Perspektive dann nur als “Modelle” der Wirklichkeit dar. (Im Materialismus, auch in der marxistisch-leninistischen Variante hat sich dieser skeptische Vorbehalt trotz allen “Erkenntnisoptimismus” in der Unterscheidung zwischen “realer” Materie und “nur abgeleiteten” Vorstellungen im Kopf erhalten).

Wird dieser Standpunkt hingegen nicht berücksichtigt, so wird sich garkein Bedürfnis zur Überprüfung/Nachschauen entwicklen und stattdessen ein Dogmatismus enstehen.

Bei Hegel ist dieser Standpunkt des Skeptizismus und Kritizismus also wichtig (“Zweite Stellung zur Objektivität”)17 und wird in dem Prozess (und der Aufhebung als seinem Resultat) mit berücksichtigt/aufbewahrt.

Verschiedene Theorien

Wenn sich Theorien als Erklärungen von “Fakten”/“Sachverhalten” widersprechen (oder den Gegenstand jeweils nur teilweise erklären können, ohne nahtlos ineinander zu passen), wird dies zumindest in der Naturwissenschaft als ein Problem wahrgenommen, das gelöst werden muss: entweder durch Falsifizierung der anderen Theorie(n) und/oder durch Weiterentwicklung der Theorie(n) zu einer neuen Theorie, in die die fraglichen bisherigen Theorien (zumindest in ihrem Erklärungsgehalt) integriert werden (im Falle von fundamentalen Erweiterungen mit, ansonsten ohne “Paradigmenwechsel”18)

Nebenbei: ähnlich wie sich idealerweise am Ende einer erfolgreichen Ermittlung alle Zeugenaussagen erklären lassen, und dabei auch Falschaussagen, die nicht direkt berücksichtigt werden, als Falschaussagen mit erklärt werden, so sind am Ende einer Zusammenfassung aller Theorien auch nicht zwangsläufig alle Theorien und alles Material mit einzubeziehen, sondern einiges bleibt begründet außen vor.

Diese Parallele funktioniert auch in umgekehrter Richtung: So wie neue Zeugenaussagen, neue Beweise zu einer Neubewertung des gesamten Falles führen können (wovon die Produzenten von Krimis/Detektivgeschichten und Prozessfilmen zu guten Teilen leben), können neue Ergebnisse natürlich auch zu einer Neubewertung/Neuordnung führen, bei der sich auch ändert, was von den vorhandenen Fakten und Theorien als relevant/irrelevant angesehen wird - der berühmte “Paradigmenwechsel” von Thomas Kuhn19).

Pluralismus - Beispiel Elefant

Der blinde Mann und der Elefant
Die blinden Männer und der Elefant, verkörpert als “Blindenbrunnen” in der Bonner Rheinaue, Deutschland. Quelle: Wikimedia

In der indischen Tradition (der Hinduismus ist ja die pluralistische Religion schlechthin, außerdem kommen in der indischen Gresellschaft mit Judentum, Christen, Muslimen, Parsen, Jains, Buddhisten etc, viele andere Religionen hinzu) gibt es die bekannte Fabel von den Blinden, die einen Elefanten beschreiben sollen20: Je nachdem, ob der Betreffende das Bein, den Bauch, den Schwanz, den Stoßzahn, das Ohr, den Rüssel usw. des Elefanten in der Hand hat, ergibt sich eine völlig andere Beschreibung des Elefanten (die den anderen natürlich widerspricht).

Es ist klar, dass die Lehre aus der Geschichte sein soll, dass jede dieser Beschreibungen ihren Teil zur Wahrheit beiträgt, und dass die Unterdrückung/Verbot einer dieser Teilwahrheiten nicht angemessen wäre, sondern uns daran hindern würde, zum angemessenen und vollständigen Bild eines Elefantens zu gelangen. Dies also gegen Ignorieren, Verdrängen, Verbieten von widersprechenden Teilwahrheiten.

Verbot abweichender Positionen im Gegensatz zum Pluralismus der verschiedenen Positionen

Das Verbot kam umgekehrt aus der Teileinsicht heraus, dass sich die Wahrheit doch nicht widersprechen darf, es doch nur eine Wahrheit geben kann (Bei Hegel ist dies die Position des “Verstandes”). Eine Position, die historisch ja öfters vorkam, für Abweichende aber eher unangenehm war und auch die Wahrheitsfindung insofern behindert hat.

Diese Position haben moderne linke (etwa in der Tradition der Franlfurter Schule) und/oder postmodernistische Kritiker der “Wahrheit” daher oft im Sinn, wenn sie gegen den Totalitarismus der Wahrheit bzw. des Wahrheitsanspruches usw. ins Feld ziehen.

Aber sowohl die Position der “einzigen Wahrheit” als auch die des notwendigen Pluralismus als Gegensatz zur “einzigen Wahrheit” betonen beide ihrerseits nur einen Teilaspekt der Wahrheit, und sind insofern beide nur zum Teil richtig und zum Teil unzureichend (haben also auch beide auch negative Effekte), müssen beide daher aufgehoben werden (wie es dann auch im folgenden Abschnitt geschieht).

Zurück zum Bild - Die Wahrheit des Bildes vom Elefanten

Das dargestellte Gleichnis vom Elefanten lebt in seiner Überzeugungskraft davon, dass sich in den unterschiedlichen Beschreibungen die Einheit des einen Elefantens wiederfindet (das Gleichnis wäre ja erheblich weniger überzeugend, wenn die Blinden je ganz unterschiedliche Dinge, etwa ein Glas Wein, eine Handvoll Sand, den Wind, eine Rose, ein Kaugummi, ein Computer usw. gefühlt und beschrieben hätten - womöglich gar noch als Beschreibung eines Elefantens).

Dementsprechend steht das Bild also nicht einfach nur für den Pluralismus, also den guten Grund für die Verschiedenheit von Erfahrungen, sondern umgekehrt auch für die höhere Einheit dieser Unterschiede, die in dem wahren Bild (Begriff) des Elefanten aufgehoben sind.

Die Wahrheit als Begriff

Wenn Sie also auf eine solche alles umfassende, logisch geordnete Wahrheit abzielen, kommen Sie zu dem, was Hegel den “Begriff” (in Hegels deutschem Vokabular: “Begriff”) nennt und dem ein eigener Artikel (und ein eigenes Tutorial) gewidmet ist: siehe das “Begriffs-Tutorial”.

Andererseits, wenn Sie dem Begriffstutorial gefolgt sind und es auf den “Begriff” “Wahrheit” selbst anwenden, sollten Sie im Grunde zu den Schlussfolgerungen dieses Artikels kommen. Deshalb habe ich eingangs gesagt, dass diese beiden Artikel sich gegenseitig ergänzen.

Behandlung bei Hegel

Im Prinzip ist natürlich Hegels ganze Logik als Bearbeitung dieses Themas zu verstehen, man kann getrost die Frage nach “Was ist Wahrheit” (und wie finden wir sie) das Grundthema der Logik nennen (Die beiden anderen Grundthemen, die für die Logik auch gerne angegeben werden, “Was ist und wie geht Denken, was ist das ‘denkerische’ am Denken” und “Was ist und wie geht Wissenschaft, was ist das ‘Wissenschaftliche’ am Denken,” laufen natürlich auf die selbe Frage hinaus).


  1. Hegel “Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaft,” Bd. 1, §19, Zusatz 1↩︎

  2. Drei Sätze später geht das Zitat weiter: “Es tritt dann aber auch alsbald das Aber auf, ob wir auch die Wahrheit zu erkennen vermögen. Es scheint eine Unangemessenheit stattzufinden zwischen uns beschränkten Menschen und der an und für sich seienden Wahrheit, und es entsteht die Frage nach der Brücke zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen. Gott ist die Wahrheit; wie sollen wir ihn erkennen? Die Tugenden der Demut und der Bescheidenheit scheinen mit solchem Vorhaben im Widerspruch zu stehen. - Man fragt dann aber auch danach, ob die Wahrheit erkannt werden könne, um eine Rechtfertigung dafür zu finden, daß man in der Gemeinheit seiner endlichen Zweck fortlebt.”↩︎

  3. https://de.wikipedia.org/wiki/Wahrheit#Die_Korrespondenztheorie_der_Wahrheit↩︎

  4. “Kant, indem er [in der] Kritik der reinen Vernunft, [B], S. 83 in Beziehung auf die Logik auf die alte und berühmte Frage, was die Wahrheit sei, zu reden kommt, schenkt fürs erste als etwas Triviales die Namenerklärung, daß sie die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande sei, - eine Definition, die von großem, ja von dem höchsten Werte ist.” (Hegel: “Wissenschaft der Logik,” TWA Bd.6, S.264-265)↩︎

  5. https://de.wikipedia.org/wiki/Logischer_Atomismus↩︎

  6. https://en.wikipedia.org/wiki/Truth#Coherence (in der deutschen Fassung unter https://de.wikipedia.org/wiki/Wahrheit#Koh%C3%A4renztheorie wird Hegel nicht erwähnt)↩︎

  7. Die Bedeutung des Wortes “aufheben,” welches in diesem Artikel mehrfach verwendet wird, weil es einen wichtigen Aspekt von Hegels Wahrheitsbegriff darstellt, können Sie im Artikel zum “Aufheben” und im Artikel zur englischne Übersetzung “sublation” nachlesen.↩︎

  8. https://de.wikipedia.org/wiki/Wahrheit#Pragmatismus_und_Intersubjektivit%C3%A4tstheorien.↩︎

  9. https://en.wikipedia.org/wiki/John_Dewey#Pragmatism,_instrumentalism,_consequentialism↩︎

  10. Popper missversteht Hegel in seinem 1945 erschienenen Buch “Die offene Gesellschaft und ihre Feinde” in dieser Weise. Das Buch wird u.a. kritisiert von Kaufmann 1959.↩︎

  11. “Wird der Zweifel Gegenstand des Zweifels, zweifelt der Zweifelnde am Zweifel selbst, so verschwindet der Zweifel.” (“Vorlesungen über die Philosophie der Religion,” zitiert nach der TWA-Suhrkamp-Ausgabe, Band 16, Seite 122). Zur Unterhaltung habe ich aus diesem Zitat ein kleines Liedchen produziert, das Sie herunterladen könnten, wenn Sie möchten.↩︎

  12. Dies ist ein berühmtes Zitat aus Hegels “Phänomenologie des Geistes.”↩︎

  13. Aristoteles: “Metaphysik” -> “Einleitung” -> “Ausgangspunkt und Endpunkt der Wissenschaft.” Um aus der deutschen Übersetzung zu zitieren: “Wenn die Menschen jetzt, und wenn sie vor alters zu philosophieren begonnen haben, so bot der Antrieb dazu die Verwunderung, zuerst über die nächstliegenden Probleme, […].”↩︎

  14. https://de.wikipedia.org/wiki/Rashomon_%E2%80%93_Das_Lustw%C3%A4ldchen↩︎

  15. https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Rotk%C3%A4ppchen-Verschw%C3%B6rung↩︎

  16. https://en.wikipedia.org/wiki/Galileo_affair , insbesondere Fußnote 7: “Galilei beklagte sich, dass einige der Philosophen, die sich seinen Entdeckungen widersetzten, sich geweigert hatten, auch nur durch ein Fernrohr zu schauen: Galilei nannte die betreffenden Philosophen nicht, aber Galilei-Forscher haben zwei von ihnen als Cesare Cremonini und Giulio Libri identifiziert (Drake, 1978, S.162, 165; Sharratt, 1994, S.87). Behauptungen über ähnliche Weigerungen von Bischöfen und Kardinälen sind mehrfach aufgestellt worden, aber es scheint keine Beweise zu geben, um diese zu unterstützen.” (Übersetzung Kai Froeb)↩︎

  17. Hegel “Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaft,” Bd. 1, §37ff.↩︎

  18. https://de.wikipedia.org/wiki/Paradigmenwechsel.↩︎

  19. https://de.wikipedia.org/wiki/Thomas_S._Kuhn↩︎

  20. https://en.wikipedia.org/wiki/Blind_men_and_an_elephant, die deutsche Fassung des Artikels https://de.wikipedia.org/wiki/Die_blinden_M%C3%A4nner_und_der_Elefant ist weniger ausführlich.↩︎