(Universität Leipzig):

Anmerkung von Kai Froeb (KF): Der folgende Vortrag wurde erstmals auf dem Internationalen Hegelkongreß in Stuttgart 1999 gehalten. Der Text erscheint demnächst in Buchform in Rahmen des von Prof. Dr. Arndt herausgegebenen Kongressbandes bei Klett-Cotta.

0. Kernsätze und Überlegungsrahmen

Die Geschichtswissenschaft „muss nach einem ihrer Hauptgesichtspunkte eine rationale politische Theologie der göttlichen Vorsehung sein." (G. Vico).„Man kann die Geschichte der Menschengattung im großen als die Vollziehung eines vernünftigen Plans der Natur ansehen. (..) die Philosophie könnte auch ihren Chiliasmus haben; aber einen solchen, zu dessen Herbeiführung ihre Idee, obgleich nur sehr von weitem, selbst beförderlich werden kann.." (I. Kant).„Genieße, wer nicht glauben kann, .. wer glauben kann, entbehre. Die Weltgeschichte ist das Weltgericht" (F. Schiller „Resignation“).Was in der Folge geschehen wird,”geht uns hier nicht an; denn in der Geschichte haben wir es mit der Vergangenheit zu tun" (G. W. F. Hegel).

Das folgende ist ein Versuch, Hegels Geschichtsphilosophie in einen systematischen Überlegungsrahmen zu stellen, von dem her begreifbar wird, was ihr Ziel und was ihre Methode ist. Ziel ist gerade das Gegenteil dessen, was die meisten Leser an der Oberfläche des Textes ablesen. Ziel ist, wie ich meine zeigen zu können, die Widerlegung jeder Hypostasierung ontischer Teleologie, ob im Rahmen einer dogmatischen Theologie oder eines überschwenglichen Naturbegriffs. Hegels Geschichtsphilosophie ist Kritik an jeder metaphysischen Eschatologie, auch an jeder Fortschrittsprognose, die mehr sein will als ein Moment handlungsleitender Orientierung. Ironischerweise wird Hegel nach wie vor selbst als Eschatologe verstanden. Dies liegt aber nur daran, daß er nicht ins Gegenextrem einer rein empirischen Ereignishistorie verfällt, die auf jede zielorientierte Erklärung individueller und gemeinschaftlicher Handlungen einerseits, geschichtlicher Entwicklungen andererseits verzichtet oder zu verzichten vermeint. Die vornehme Zurückhaltung im Namen einer positiven Wahrheit stellt sich am Ende als Mangel an Erklärung und Verständnis heraus.

Am Schluß wird grob skizziert, wie Hegel seine Grundthesen zur Methode einer denkenden und d.h. unter Gebrauch vernünftiger Urteilskraft erklärenden, daher ‚philosophischen’ oder auch ‚strukturellen’ Geschichtsschreibung am Beispiel der Entwicklung der Idee personaler Autonomie von der Antike (Persien, Hellas, Rom) über das Mittelalter (im germanisierten Westen Europas) bis in seine Gegenwart konkretisiert.

1. Der Anfang in der Sittlichkeit

1.1 Tradition als Möglichkeitsbedingung von Vernunft und Autonomie

Für Hegel ist bekanntlich die traditionale Sittlichkeit als System realer Praxisformen realbegriffliche Voraussetzung oder präsuppositionale Bedingung der Möglichkeit personaler Kompetenzen. Sie ist implizite Basis unseres Selbstverständnisses, unserer Urteilskriterien und unseres Handelns. Diese Sittlichkeit stellt man sich am besten als gewordenes System von Institutionen vor. In dieses Kriteriensystem der Sittlichkeit werden wir zunächst passiv einsozialisiert. Wir erhalten so durch eine Art Abrichtung eine Art zweite Natur. Unter Rückgriff auf diese uralte Grundeinsicht (etwa eines Augustinus) stellt Hegel lange vor den Neukantianern die transzendentallogische Begriffsanalyse Kants an ihren Platz, indem er den kulturgeschichtlichen Status begrifflicher, besonders auch synthetisch-apriorischer, Urteile hervorhebt.

Hegel folgt Kant zunächst darin, dass es neben rein definitorisch-analytischen Aussagen noch eine andere Art von begrifflich wahren Aussagen gibt. Diese artikulieren die kriterialen Bedingungen der Möglichkeit bestimmter Urteils- und Schlußformen und dann auch einer zugehörigen Praxisform. Diese Formen bestimmen einen Rahmen dafür, was in einer ‚Epoche’, einer temporal und lokal eingegrenzten Gemeinschaft, als ‚begrifflich richtiges’ Urteilen, schließen und Handeln zählt. Die Zeit auf den Begriff zu bringen, bedeutet daher nichts anderes, als die realbegrifflichen Grundlagen der Urteils- oder Richtigkeitskriterien einer temporal und lokal eingeklammerten Gegenwart und ihrer Praxisformen explizit zu machen.

Zum Beispiel ‚gilt’ (gerade auch nach Hegel) erst ‚seit Newton’ aus begrifflichen Gründen, dass jeder Körper im Sinne der Gravitationstheorie ‚schwer’ ist. D.h., grob gesagt, jedem Körper wird im System der Körper eine positive Massenzahl zugeordnet, mit deren Hilfe entsprechende Bewegungen ‘erklärt,’ berechenbar, werden. Und erst seit dem Christentum gilt, dass jeder Mensch (im Prinzip) eine Person mit ‚unendlicher’ Würde ist. Was das letztere heißt, ist bei Kant dargelegt: Freiheits- und Persönlichkeitsrechte sind ‚grundsätzlich’ höherwertig als irgendeine materiale Präferenzerfüllung und insofern mit nichts aufrechenbar. Die Grundidee geht schon auf Solon zurück: Kein freigeborener Bürger kann resp. darf seine Freiheit aufgeben. Hegel betont nun, dass eine solche Idee als Praxisform oder auch als Projekt in ihrer Geschichtlichkeit zu erfassen ist, wenn wir sie wirklich voll begreifen wollen. Denn nur so erhalten wir eine bewußte ‚Ortsbestimmung’ für unsere gegenwärtige Begrifflichkeit, die impliziten Kriterien unseres Urteilens und die zugehörigen Basisbedingungen der Möglichkeit des (sinnvollen, richtigen, gemeinsamen) Handelns und Urteilens.

Aufgabe einer philosophischen Weltgeschichte, wie sie sich Hegel vorstellt, ist nun (im wesentlichen) die verbale Explikation der Realentwicklung der Idee der personalen Autonomie und Würde. Dargestellt werden soll diese Idee im Kontext des Realbegriffs der Vernunft und des Fortschritts. Das wiederum heißt, dass es um die Entwicklung der Kriterien unserer Urteile der Form „dieses ist vernünftig" bzw. „jenes ist fortschrittlich" geht, und zwar sowohl im allgemeinen, als auch im Bezug auf besondere Praxisformen oder Institutionen, sowohl als abstraktes (absolutes) Ideal, als auch als real anwendbare Urteilskriterien.

Die Idee der Vernunft wird realisiert bzw. soll realisiert werden in gemeinsamer Arbeit. Die Entwicklung einer Idee orientiert sich oder ist orientiert an einem oft schon verbal artikulierten Ideal, in dem richtungsweisende Kriterien wenigstens qua Nennung real sind. Erst so, durch Orientierung an einer implizit anerkannten oder explizit genannten Richtigkeit, an einer als vernünftig oder fortschrittlich ausgezeichneten Richtung, werden Ideen der Aufklärung und Autonomie, die Hegel unter dem Titel „Selbstbewußtsein" zusammenfaßt, zu einem Gemeinschaftsunternehmen.

Die Richtung ist, grob, bestimmbar als das Ideal der autonomen Person in einer freien, nach anerkennbaren Prinzipien und Institutionen geordneten Gesellschaft. Diese ist ihrerseits nicht bloß als Ansammlung von willkürfreien Individuen aufzufassen, sondern als ein Gesamt von möglichen Gemeinschaftsunternehmen wie denen der Wissenschaft, Bildung, Technik, freien Moral, der Ökonomie und ästhetischen Kultur. Diese stehen immer schon in einem allgemeineren Rahmen des Politischen, im kooperativen Rahmensystem von Recht und Staat. Vermittelt wird die Anerkennung eben dieses Rahmens durch religionsartige Bindungen der Person an das Projekt eines guten Lebens in der politischen Gemeinschaft.1 Die Rolle der Religion und dann auch der Philosophie, die bei Hegel als Säkularierung und autonome Erfassung der Inhalte und Funktionen religiöser Traditionen und Mythen konzipiert ist, sollen also eine ‚freie’, genauer, ‚freiwillige’ Bindung der Personen an die entsprechend geformte Gemeinschaft, Gesellschaft und den Staat erreichen. Ein Grundproblem der Moderne besteht dann offenbar in der Frage, ob die subjektive Freiwilligkeit auch schon autonome Anerkennung bedeutet, bzw. wie zwischen bloß faktischer Anerkennung und Anerkennungswürdigkeit einer sittlichen und politischen Ordnung zu unterscheiden ist.

Die Idee der Säkularisierung ist die Idee der Moderne. Ihre Beförderung ist Grundthema von Hegels Philosophie im allgemeinen, seiner Philosophie der Weltgeschichte im besonderen. Die Grundeinsicht ist diese: Autonom begreifen können wir die Sittlichkeit oder das Überlieferungsgeschehen nicht durch abstrakte Kritik im Blick auf ein utopisches Ideal einer besseren Welt, sondern nur durch Differenzierung zwischen anerkennungswürdigen und kritikwürdigen Formen. Diese müssen dazu explizit gemacht sein. Als vernünftig gelten kann immer nur eine Art des konstruktiven Mißtrauensvotums gegen die Tradition. Eine bloß negative, zynische, weil tatenlose, Kritik an bestehenden Verhältnissen oder Überzeugungen reicht ebensowenig aus wie eine willkürliche Revolution der Verhältnisse. Es sind anerkennungswürdige und am Ende faktisch anerkannte Neuvorschläge für eine ‚bessere’ Formung des (gemeinsamen) Handelns zu machen.

1.2 Logische Analyse des Begriffs der Idee

Jede Analyse des Begriffs der Vernunft ist Reflexion auf die Basiskriterien, nach denen wir ein Urteil oder eine Handlung, eine Maxime oder eine Institution als richtig oder vernünftig beurteilen. Es ist eine Grundeinsicht Hegels, dass diese Kriterien ohne eine Platzierung von uns selbst in den Rahmen der Rekonstruktion unserer eigenen Vergangenheit und in den Rahmen einer von uns selbst projektierten idealen Zukunft nicht selbstbewußt begriffen werden können.

Hegels Rede von einer Entwicklung einer Idee oder eines Begriffs wird insbesondere dann falsch verstanden, wenn man mit Kant oder der formalanalytischen Philosophie an ewige Kriterien denkt, die Ideen und Begriffe definieren sollen. Daher ist ein Hinweis auf die grundlegende Bedeutung von Hegels Logik für jede bewußte Begriffsanalyse und Ideenreflexion am Platze.

In der Seinslogik, der Analyse der Varietäten des Gebrauchs von ‘objektstufigen’ Satzformen wie z.B. „es ist so .. “, „N hat die Eigenschaft E” oder „es gibt ein a mit der Eigenschaft E", hatte Hegel festgestellt, dass alle Richtigkeits-, Geltungs- oder Wahrheitsbedingungen, nicht etwa nur solche, welche sich schon auf unsere Erfahrungen mit physischen Dingen beziehen, gemeinsame Kriterien der Unterscheidung und Nichtunterscheidung (Identifikation) von Gegenständen, Eigenschaften oder Klassifikationen unterstellen. Diese transzendentalen oder präsuppositionalen Unterstellungen bestimmen die Begriffe des Seins, der Existenz, des Bestehens, und damit dann auch die des Nichtseins, der Unrichtigkeit, Falschheit. Im normalen Gebrauch der Kriterien setzen wir diese voraus. Im normalen Gebrauch bedenken wir die Kriterien nicht, ändern sie erst recht nicht ab. Sie erscheinen damit als bestehend, als substantiell, ja als absolut. Sie erscheinen als situationsinvariante, ‚ewige’, Bestimmungen. So, als überzeitliche, erscheinen sie auch noch in einer synchronen Reflexion, einer begrifflichen Analyse, die nicht oder zu wenig auf ihren eigenen Status als Schritt in der Entwicklung begrifflicher Regelungen und Urteilsformen achtet. Man denke etwa Kants transzendentallogische Analyse der Kriterien der Identität von physischen Dingen und der realen Geltungsbedingungen für Dingaussagen, oder auch an formallogische und mathematisierte Konstruktionen oder ‘Explikationen’ wie z.B. des Begriffs der rationalen Entscheidung in der analytischen Philosophie.

In der Wesenslogik geht es, grob gesagt, um die Analyse von Aussageformen der Art „eigentlich ist es so .." oder „in Wirklichkeit gibt es y nicht" oder „im wesentlichen ist das y ein z" oder „das Wesen oder die wesentliche Erklärung von y ist z“. Hier bemerkt Hegel, dass die genannten Formen dazu gebraucht werden, bisher anerkannte Klassifikationen, Aussagen, Erklärungen oder auch Wertungen als relativ ‘oberflächlich,’ z.B. als Aussagen über bloße Erscheinungen zu kritisieren. Die Aussagen sollen nicht total negiert, sondern ihr Verständnis oder ihre Erklärung soll verbessert werden. Beispiele solcher Urteile sind: „In Wirklichkeit dreht sich die Erde um die Sonne.” „Die Gravitation erklärt die Planetenbewegung." „Eigentlich hat Newton nicht recht, sondern Einstein".

Hier wird gegen ein bloß partielles Verständnis von ‚Erscheinungen’ deren ‚wirkliche’ bzw. ‚vernünftige’ Erklärung gesetzt. Entsprechend wird auch gegen ein bloß implizites, empraktisches Verständnis einer begrifflichen Unterscheidung ein besseres, explizit verbalisiertes, Verständnis gesetzt. Jede Begriffsanalyse läuft auf eine Normierung hinaus, welche unsere Urteilspraxis der Intention nach irgendwie verbessern soll.

Hegels Rede von der Entwicklung eines Begriffs läßt sich damit auch als Lösungsvorschlag zum berühmten Paradox der Analyse verstehen: Einerseits soll die gegebene Explikation den ‚eigentlichen’ Sinn eines schon gegebenen Gebrauchs treffen. Andererseits wäre eine Explikation gar nicht nötig, wenn sich gegenüber dem alten Gebrauch durch sie gar nichts ändern würde. Die Wesenslogik thematisiert daher den für jede reale Wissenschaftlichkeit nachgerade fundamentalen Gedanken des Fortschritts im Begreifen unserer eigenen Unterscheidungs- und Urteilspraxis und unseres wissenschaftlichen Erklärens. Insbesondere thematisiert sie die Tatsache, dass unsere Praxis der Änderung von Kriterien eine freie Praxis des Werbens um Anerkennung ist, die nicht einfach auf gegebene höhere, metastufige, Kriterien verweisen kann. Kriterien binden gemeinsames Handeln, und sie tun dies grundsätzlich objektstufig, d.h. in der individuellen Beherrschung der kriterialen Bindung und in der gemeinsamen Kontrolle, ob die einzelnen die Regelung zureichend beherrschen.

Das höchste ‚Kriterium’ ist kein wirkliches, d.h. kein objektstufig-bindendes Kriterium. Es ist die freie und erfahrene Urteilskraft auf Seiten der besonderen Person, die vernünftige Einigung über ganze Kriteriensysteme im Blick auf gemeinsam anerkannte Zwecke auf Seiten der Gemeinschaft. „Vernünftig" nennen wir (neue) Kriterien, Regeln und Normen, grob gesagt, wenn sie erstens nützlich und zweitens autonom anerkennbar sind, wenn sie also insgesamt zu besseren Verhältnissen im kommunikativen und kooperativen Handeln, etwa zu einem besseren Wissen und Können führen als das, was vorher als anerkannt galt. Vernünftig ist damit, grob gesagt, was als bindend anerkennungswürdig ist, also die entsprechend zu prüfenden Regeln, Kriterien und Normen, die Anspruch auf gemeinsame Anerkennung machen.

Damit ist dann auch die Basis für die Begriffslogik gelegt. Es geht um die Analyse von Idealisierungen und Entfinitisierungen im Ausgang von einer Praxis der Verbesserungen z.B. unseres Wissens oder von begrifflichen Unterscheidungen und Handlungsformen. Der Verwendungszweck dieser ‘absoluten’ Redeformen besteht, sozusagen, in der Bewertung des ‘Abstands’ realer Erfüllungen von ideal ausgemalten Zielen. Damit gerade dienen sie der Orientierung und als eine Art Maßstab in der Beurteilung eines ‘Fortschritts.’

Am klarsten erläuterbar ist diese verbale Praxis der Idealisierung am Beispiel der Rede über (zunächst planimetrische) geometrische Formen: Ideale Kreise oder Geraden existieren weder einfach in der empirischen Realität, was schon Protagoras und Hume betonen, noch in der subjektiven Vorstellung. Sie werden vielmehr in einer entfinitisierenden Form der Rede konstituiert, als ‚wahre Unendlichkeiten’ in Hegels Sinn, d.h. im Unterschied zur ‚schlechten’ Unendlichkeit eines empirischen „Und-So-Weiter" oder „Immer-Besser". Eine wahre Unendlichkeit ist ein System von für wahr erklärten Aussagen über ideale Formen. In unserem Beispiel sind dies die Formen der Geometrie. Die wahren Aussagen erhalten ihrerseits wichtige Orientierungsfunktionen für unser gemeinsames Urteilen über hinreichende oder nicht zureichende Zielerfüllungen bei der realen Herstellung planimetrischer Figuren. Maßstäbliche Urformen sind dabei der (ideale) Kreis, die (ideale) gerade Linie und der (ideale) rechte Winkel.

Nicht nur in der Geometrie, in allen theoretischen Wissenschaften treten ‚spekulative’, d.h. hochideale, entfinitisierte, Redeformen in der einen oder anderen Form auf. Es ist eine der wichtigsten metaphysik- und zugleich wissenschaftskritischen Aufgaben der Philosophie, die Verfassung und den rechten Gebrauch dieser ‘spekulativen’ oder ‘absoluten’ Redeformen begreifbar zu machen.

Die wichtigste Funktion spekulativer Redeformen besteht darin, wenigstens grob, manchmal nur verbal, auf Begrenzungen der Binnenreflexionen und des Binnenbewußtseins einer Epoche aufmerksam zu machen. Auch wenn uns spekulative Redeformen, da sie von uns hier und heute entworfen sind, ebensowenig aus der Gegenwart hinausführen wie eine science fiction oder wie theoretische Nachkonstruktionen geschichtlicher Entwicklungen, verhelfen sie zu einer Art Überblick. Wir werden aufmerksam auf temporale und lokale Unterschiede in Handlungsmöglichkeiten und Urteilsformen. Eine Entprovinzialsierung unseres eigenen Standpunktes ist ohne solche Redeformen kaum zu erreichen. Dabei ist bemerkenswert, dass jede Gegenwart als solche immer nur als das Ende aller Epochen zu verstehen ist und nicht selbst als abgeschlossene Epoche begriffen werden kann, es sei denn, man blickt aus einer fingierten Zukunft zurück.

Die Konstitution spekulativer Rede kann hier nur exemplarisch verdeutlicht werden. Das Beispiel allerdings ist zentral. Es handelt sich um die Rede von einer ‚absoluten’ Wahrheit. Eine verbale Operation der Entfinitisierung führt uns dabei von einer Stufung je besseren Realwissens zur Idee bzw. zum Ideal absoluten, i.e. vollkommenen, ‚unverbesserbaren’ Wissens und eben damit zu einem Idealbegriff der Wahrheit. Dieser wird als unendlich gedacht, als von der Endlichkeit der jeweils bloß gegenwärtig besten Wissens befreit. Die ‚spekulative’ Fiktion einer Perspektive eines (ggf. auf Sparten beschränkten) ‚allwissenden Gottes’, also die kontrafaktische Betrachtung einer möglichen Fortschrittsgeschichte sub specie aeternitatis, hatte in der Tradition diesen ‚absoluten’ Begriff der Wahrheit (und dann auch der Bedeutung oder der Vernunft) erläutert. Trotz der Geschichte der mit dieser Fiktion verbundenen metaphysischen Mißverständnisse ist die Funktion der entsprechenden Redeformen im Kontext von Richtungsangaben für eine vernünftige Entwicklung nachgerade von unschätzbarer Bedeutung. Auf sie als Redeform grundsätzlich zu verzichten wäre so weise, wie auf die Mathematik verzichten zu wollen. Die Aufgabe ist stattdessen, die Redeformen der spekulativen Ebene angemessen zu verstehen und zu gebrauchen. Hegel hat sich dieser Mühe unterzogen, der sich viele seiner Leser, neuerdings etwa auch Herbert Schnädelbach, so scheint es mir, entziehen, indem sie Hegel schlicht und schnell zu einem Metaphysiker des Absoluten machen. Da Lesarten und Zuschreibungen von Autorintentionen immer auch in der Verantwortung der Leser stehen, ist dazu nur dies zu sagen: Es kann interessantere Lesarten geben. Hegel lehrt uns, so sehe jedenfalls ich die Dinge, dass die traditionelle Rede von Gott wesentliche Funktionen in der Artikulation richtungsweisender Ideen der Art der Idee der Wahrheit oder des absoluten Wissens bzw. des Guten hat. Gerade auch dann, wenn man dem Zeugnis seiner Hörer folgt, ist die Meinung verfehlt, Hegel unterstelle einen ‚wirklichen’ Gott, einen wirklichen, fixfertigen und insgesamt mit guten Absichten ausgestatteter Weltgeist. Richtig ist allerdings, dass er die multifunktionale Idee Gottes, artikuliert in religiöser Rede, und dabei dann auch die speziellere Rede über einen durchschnittlichen Geist der Zeit und der je bisherigen Weltgeschichte für wichtig hält. Es handelt sich um die schwierige, meinethalben immer metaphorische, allegorische oder analogische Artikulation allgemeiner und wirksamer Ideen und Formen humanen Lebens.

Ob unsere (natur)wissenschaftlichen Kosmologien, die sich hinter allen reduktiven Erklärungsansprüchen der Naturwissenschaften auffinden lassen, eine angemessene Säkularisierung der religiösen Mythen darstellen und zu einem vernünftigen Selbstverständnis der Menschen und der condition humaine führen, das ist die große Frage.

Von zentraler Bedeutung wird nun, dass Ideen nicht nur Gegenstände der reflektierenden Rede sind, sondern selbst wirksame Handlungsorientierungen im gemeinsamen Handeln abgeben. Sie sind nicht nur Objekte, sondern spielen die Rolle von Subjekten in der Entwicklung des gemeinsamen Handelns. Was heißt das?

Ich betrachte dazu ein Beispiel. Wir seien die Teilnehmer einer geologischen Erforschung der Antarktis. Dann sind die Ergebnisse unseres gemeinschaftlichen Tuns nicht einfach das Resultat zufälliger individueller Intentionen, sondern des Gemeinschaftsprojekts und seiner (in vielem impliziten) Arbeitsteilung. In einem gewissen Sinn ist die Idee der geologischen Erforschung der Antarktis das eigentliche Subjekt unseres gemeinschaftlichen Handelns. Sie macht den ‚Geist’ der betreffenden Wir-Gruppe aus. Manches Tun der einzelnen und manche besonderen Intentionen mögen für die Idee besonders zuträglich oder abträglich und vieles wird irrelevant sein. Anderes ist ein Teil unseres Tuns, nämlich was als Tun im Rahmen des Projekts zählt. In ähnlicher Weise ist zu verstehen, wenn jemand als Vertreter einer Institution handelt oder wenn wir uns für die Taten einer Wir-Gruppe, etwa auch einer ganzen Nation, als mitverantwortlich anerkennen, auch ohne dass wir als einzelne involviert gewesen sein müssen.

Dass ein einzelnes Tun einer einzelnen Person als ein bestimmtes Tun zählt, sagen wir als Versprechen oder als Taufe im Blick auf eine Gemeinschaft oder als Akt der Reue und Buße im Blick auf einen idealen Betrachter bzw. auf das innere Forum der Selbstbewertung der Person, dazu bedarf es der je zugehörigen Idee oder Praxisform. Diese macht das „Zählen-Als" allererst möglich. Sie ermöglicht es allererst, dass ich z.B. heiraten oder lügen kann. Ich bin nur insoweit Akteur einer Handlung H – auch im Unterschied zum Träger meines Verhaltens – als ich etwas tue, ein besonderes h ‘ausführe,’ das meiner (allgemeinen, daher nicht immer voll explizierten, bewußen) Intention nach und ggf. auch in der Beurteilung von Schiedsrichtern als ein Versuch der Aktualisierung des Handlungsschemas H zählen kann. H selbst aber als mögliche Praxisform, als Begriff der Handlung, die ich ergreifen kann, ist nicht in erster Linie von mir bestimmt. Es ist die Idee H die Substanz meines Handelns, nicht das konkrete oder besondere Tun h. Es gibt die generische Handlung H als mögliche Idee bei uns. Es gibt sie insbesondere in der folgenden Form: Wir anerkennen (manche sagen: dazu auch ‚deuten’) ein Tun h, auch unser eigenes, als einen Vollzug oder Vollzugsversuch einer generischen Handlung H. Dabei kann diese Anerkennung zugleich bestimmen, wer ‚wir’ sind. Wenn ich etwa sage, dass wir Kindesmord verabscheuen (sollten), dann beziehe ich mich auf alle, die diesen (Sollens)Satz anerkennen, und zwar hoffentlich nicht bloß verbal. Damit gehören z.B. die antiken Spartaner, jedenfalls nicht umstandslos, zu ‚uns’.

Diese Überlegungen ganz ohne Metaphern zu artikulieren, ist nicht möglich. Denn es geht gerade um einen Entwurf von Sprechweisen, welcher die genannten Phänomene allererst auf den Begriff bringt. Daher und wegen des intendierten Grobüberblicks über einen Themenbereich ist die Forderung nach Vermeidung von Vagheiten in einer solchen Art von Sprachdesign ganz fehl am Platz. Eine solche Forderung wäre ähnlich unklug wie die, auf den Gebrauch von ‚vagen’ Lageskizzen zu verzichten und immer nur vollständige ‚photographische genaue’ Karten zu gebrauchen.

Eine generische Handlung H ist nun nicht einfach als Sammlung, als Klasse, von Einzelvollzügen h bestimmbar. Dass ein Tun h ein Token eines Handlungtyps H ‚ist’, bedeutet, dass es so ‚gezählt’ wird. Es setzt meine Beherrschung der generischen Handlung H den Bezug auf die generische Handlung H und damit deren Bekanntheit präsuppositional oder transzendental voraus. Nur dann kann mein Tun h als ‘Token’ bzw. als Realisierungsversuch von H bewertet werden. Unterstellt ist damit zugleich eine mehr oder weniger vage Bestimmung einer Wir-Gruppe, innerhalb derer die Vollzüge des betreffenden Könnens stattfinden und beurteilt werden. Dabei spielt es zunächst keine Rolle, ob H eine Handlung ist, die ein Person ausführen kann, oder ein ‘individueller Teil’ einer gemeinsamen Handlung. Ich allein kann Tagebuch führen, aber ich kann nicht allein heiraten.

Man kann die Metapher weitertreiben und sagen, dass die Idee H oder der Begriff des betreffenden Tuns die eigentliche Macht in meinem konkreten Handeln ist: Sie schafft mir erst die Möglichkeit, so zu handeln, also mein Tun h als Handlung H bestimmen zu wollen. Systeme möglicher Handlungen H lassen sich entsprechend, in einem gewissem metaphorischen oder analogischen Sinn, als Großsubjekte auffassen: Sie machen mich und uns zu den Personen, die wir sein können und sind, insofern sie uns über unmittelbare, kreatürliche, Verhaltensreaktionen hinaus eine ‚zweite Natur’ des kulturell ‚Selbstverständlichen’ und dann auch bewußte Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stellen. Wenn man dies etwas großartig ausdrücken will, kann man das Gesamt der Handlungsmöglichkeiten einer Zeit mit dem Großtitel „die Idee" oder „der Begriff" versehen. Dann kann man mit Hegel sagen, der Begriff sei die Macht im Sinne eines Gesamts von Möglichkeiten, und die Substanz im Sinne dessen, was über das einzelne Verhalten hinaus (relativ) beständig ist.

Konkreter bestimmt eine Aussage der Form „Wir tun/wollen dies" oder „wir haben dies getan" sowohl die Wir-Gruppe der den Satz anerkennenden Sprecher als auch den Aussage-Gegenstand, nämlich uns, gerade dadurch, dass die Aussage von uns über uns als richtig anerkannt wird. Die Frage, wie solche Sätze falsch sein können, ist nicht (ganz) trivial. Denn es muss dazu eine Schiedsrichterinstanz, etwa Ihr, über uns sagen, dass die Aussage, die wir über uns als wahr anerkennen, falsch sei. Und wir müssen dieses Urteil als (möglicherweise) wahr annehmen können.

Hegel verallgemeinert und präzisiert in diesen Reden über den Geist als Subjekt gemeinsamen Handelns die Einsicht Fichtes in die Differenz zwischen mir als Handlungssubjekt und mir als Reflexionsobjekt. Er tut dies, indem er ein analoges Verhältnis zwischen uns als durch eine gemeinsam anerkannte Idee verbundene Wir-Gruppe gemeinsam Handelnder und der Beschreibung von uns als je einzeln Handelnder bemerkt. Wenn wir über uns reden, dann gibt es das „Wir" und das „Uns" nicht einfach als willkürlich bestimmte Menge von Individuen. Sondern der Umfang des „Wir" und des „Uns" ist bestimmt durch die Anerkennung der Zugehörigkeit zur Wir-Gruppe, die ihrerseits durch eine Art Gemeinschaftsprojekt bestimmt werden muss. Schon eine expressive Äußerung von mir über mich (eines Ich über sich) ist nicht einfach deskriptiv als wahr oder falsch zu werten. Sogar jede (wahrhafte) Selbstbeschreibung enthält einen performativen Akt der Anerkennung der Beschreibung durch mich. Ich kann mich in meinem Urteilen über mich nur insoweit täuschen, als ich die Kriterien möglicher Schiedsrichterdiskurse wenigstens implizit anerkennen kann. So ist zu erklären, warum Aussagen über mich nicht allein deswegen richtig sind, weil ich sie dafür halte. Es war Hegel, der lange vor Wittgenstein auf das Ungenügen des bloßen Meinens auch in bezug auf sich selbst hingewiesen hat, ohne dass damit die Basis allen Urteilens und Anerkennens im Meinen geleugnet würde.

Die Rede vom Geist einer Gemeinschaft, der selbst als Subjekt, als eine Art Handelnder, und nicht als Objekt, als bloßer Denkgegenstand zu fassen ist, drückt die genannte Grundeinsicht in die besondere Struktur gemeinsamen Handelns in metaphorischer Redeform aus. Es sind die geteilten Ideen, ihre implizite oder explizite, wenigstens durchschnittlich wirksame Anerkennung durch eine Gruppe von Personen, welche eine Wir-Gruppe zum Subjekt gemeinsamen Handelns macht. Daher kann nur die Explikation der Idee uns, der Wir-Gruppe, bzw. dem sie definierenden ‚Geist’ zu Selbstbewußtsein und Autonomie verhelfen.

Diese Grundeinsicht Hegels in die besondere Form der Intentionalität von Wir-Gruppen unterscheidet sich kategorial von allen ich-intentionalen Zugängen zum gemeinsamen Handeln, nämlich darin, dass gemeinsames Handeln nicht ein rein zufälliges Aggregat einzelnen Tuns ist. Erst damit wird auch klar, inwiefern die Teilnahme und Teilhabe an einer gemeinsamen Sittlichkeit uns zu Personen macht.2

Eine sinnkritische Analyse des Begriffs des Geistes, also auch jeder Rede von Gott, hat, wie Spinoza mit Recht gegen den Cartesianismus gefordert hatte, die Einheit der Welt wahren. Sie hat insbesondere eine unverstandene, daher metaphysisch mystifizierte, dualistische Zerfällung in Geist- und Körperwelt zu vermeiden oder zu überwinden. Bei Hegel ergibt sich daraus, dass der individuelle Geist nicht als mystische Emanation einer ontischen Substanz zu begreifen ist, etwa des allgemeinen Geistes, noch einfach als die Funktionsweise meines Gehirns. Er ist Teilhabe (oder eben Nichtteilhabe) an einer ‚allgemeinen Vernunft’ oder einer ‚Welt des Geistes’. Diese ist für Hegel konkret der Bereich der Ideen und Formen des gemeinsamen Lebens und Handelns, wie es sich in der Kulturgeschichte entwickelt. Hierin folgen ihm später sowohl der Neukantianismus als auch der Amerikanische Pragmatismus, obwohl man diese Hegelschen Wurzeln des eigenen Denkens weitgehend nicht mehr als solche versteht.

1.3 Philosophische Geschichte

Das Thema von Hegels (philosophischer) Weltgeschichte ist nun gerade die Entwicklung der universalen Idee der autonomen Person im Rahmen des Projekts einer sittlich geordneten humanen und am Ende bürgerlichen Welt.3 Eine solche Weltgeschichte ist eine Strukturgeschichte, welche die Realentwicklung von Institutionen in Staat und Gesellschaft enthalten muss, soweit diese für das Verständnis der Entwicklung der Idee relevant wird.

Da es nicht bloß um verbale Bestimmungen einer Idee post hoc geht, sondern immer auch um ihre Realisierung im politischen und gesellschaftlichen Kontext, kann eine Analyse des Begriffs der autonomen Person nicht ohne geschichtliche Rekonstruktion von Epochen auskommen, in denen sich die Idee entwickelt. Eine anfängliche Artikulation einer Idee kann man dabei mit Hegel eine „Offenbarung" nennen und damit einen bekannten religiösen Diskurs säkularisieren.

Jede Entwicklungsgeschichte setzt eine synchrone (Struktur-)Analyse der Lebensformen, Einrichtungen bzw. Institutionen voraus, deren geschichtliche Entwicklung rekonstruiert werden soll. Eine Entwicklungsgeschichte in Hegels Sinn wird damit immer schon mit Blick auf das bekannte ‚Ziel’ erzählt. Aufgrund dieser Form der Darstellung sieht es so aus, als gäbe es so etwas wie eine ‚Vorsehung’: Dargestellt wird die Genese von humanen Praxisformen, Bewertungskriterien und Idealen. Diese sind selbst schon ein in der Regel vorab als positiv bewertetes Resultat. Daher wird zumindest manchmal so geredet, als sei in den früheren Phasen das Resultat irgendwie schon samenartig enthalten oder eben ‚vorgesehen’: Das Auftreten eben dieser Redeform unterscheidet eine Darstellung der Entwicklung einer Idee von der Darstellung einer bloß ereignisartigen, evolutiven, Ausbreitung eines Verhaltensmusters.4 Daraus folgt aber keine Prognose für den zukünftigen Gang der Welt. Ich meine, dass Hegel diesen Punkt an manchen Stellen ganz und gar klar macht.

Es ist dann zunächst nur der Begriff der ‚rationalen Rekonstruktion’ einer Genese selbst, der zum begrifflichen Urteil führt, dass jede Entwicklungsgeschichte einer von uns anerkannten Institution (im großen) ‚vernünftig’ ist – sonst wäre es keine ‚rationale’ Rekonstruktion. Ziel einer solchen Rekonstruktion ist ja ein Begreifen der Rahmenbedingungen unserer Sittlichkeit und der in sie eingelassenen Wertungskriterien, nicht etwa das Urteil, dass am Ende alles zum Besten stehe.

Die Akteure früherer Epochen sind dabei in jedem Fall immer auch als handelnde Personen anzuerkennen, und zwar nicht bloß individuell, sondern auch als Teilnehmer an einem gemeinsamen Handeln und Tun in Gemeinschaften. Dabei ist das Wort „Gemeinschaft" als allgemeines Titelwort zu lesen für irgendein mögliches „Wir" und „Uns" oder „Ihr" und „Euch" oder dann auch „Sie", die je durch irgendeine Gemeinsamkeit näher zu bestimmen sind. So reden wir von uns Europäern oder von uns Geisteswissenschaftlern oder von euch Amerikanern oder von den frühen Christen.

Hegels Rede vom „Weltgeist" verweist dann ganz analog wie Montesquieus Rede vom Geist der Gesetze bzw. wie die gängige Rede vom Geist einer Zeit oder eines Volkes auf so etwas wie einen nicht bloß kontemplativen, sondern aktiven(!) ‚Gott der Institutionen in ihrer Entwicklung’, und damit auf die metaphorisch artikulierte bzw. dargestellte Idee, welche als Macht, als Wirkkraft auf das gemeinsame Handeln, immer auch zu einer Entwicklung des Gesamtsystems humaner Praxisformen führt. Es geht dabei nicht um die Annahme eines Großsubjekts hinter dem Rücken unseres individuellen und gemeinsamen Handelns. Dies meinen nur diejenigen, welche nominalisierte Titel wie „Vernunft" und „Weltgeist" immer noch als Namen von personenartigen Wesen lesen, obwohl man die besondere Grammatik verdichteter Rede, wie sie hier auftritt, inzwischen eigentlich nicht nur in ihrem empraktischen Gebrauch richtig beherrschen, sondern auch begreifen könnte.

Das Wort „Welt" bedeutet dann auch nicht einfach die gesamte Erde. Gemeint ist eher, vielleicht im Anklang an die Bedeutung des althochdeutschen „weralt“, „Menschenalter,” so etwas wie eine lokal und temporal begrenzte Weltordnung, die als Epoche je genauer zu bestimmen ist in bezug auf besondere Typen oder Grundformen einer ‚Sittlichkeit’ oder, wie man heute sagt, einer gemeinsamen Kultur5. Daher ist Hegels Weltgeschichte nicht etwa die Geschichte aller Kulturen der Erde., sondern grenzt die Epoche ein, in der sich eine Weltkultur entwickelt. Daher ist es auch nicht so unerhört, wenn er nicht alle Kulturentwicklungen als Beiträger zur ‘Weltgeschichte’ wertet.

Damit gelangen wir zu einer relativ klaren Regel, welche unsere logisch-linguistischen Auflösungen der Verdichtungen in Hegels Rede vom Weltgeist und von der Weltgeschichte leiten könnte: Nur das zählt zu dem, was Hegel „Weltgeschichte" nennt, was in der für Hegel als einzig relevant erklärten Hinsicht zur Entwicklung des ‘Selbstbewußtseins’ eines ‘Weltbürgers’ beiträgt. Um es kurz, und daher etwas verschachtelt zu sagen: Hegels Weltgeschichte ist ein Versuch einer rationalen Rekonstruktion der geschichtlich gefaßten Bedingungen der Möglichkeit autonom begriffener humaner Institutionen im Zeitalter des Universalismus6.

2. Hegels Säkularisierung von Naturabsicht und Vorsehung

2.1 Vernunft in der Geschichte

Vernunft ‚gibt’ es nun in der Weltgeschichte nicht etwa deswegen, weil alles, was historisch passiert ist, vernünftig gewesen wäre oder weil es sich aufgrund einer rein a priori postulierten, eben daher transzendenten, List der Vernunft am Ende zum Guten, Besseren, oder zum Fortschritt der Aufklärungszeit gewendet hätte. Vernunft gibt es in der Geschichte, weil es selbst ein Gütekriterium einer rationalen Rekonstruktion einer Entwicklung ‚der Vernunft’, d. h. unserer Urteilskriterien, ist, diese Entwicklung als gemeinsame Tat von Menschen und nicht als Folge einer unsichtbaren Hand Gottes oder einer Naturabsicht darzustellen, welche neben oder hinter dem Zufall der Ereignisse gewirkt hat. Zwar ist diese gemeinsame Tat nicht eigentlich als Tat zu fassen, da sie nicht die individuell beabsichtigte Tat einzelner Personen ist. Man denke z.B. an die Kreuzzüge, die Erbaung der Kathedralen oder an die Untaten des nationalsozialistischen Deutschland: Alle derartigen Taten sind nicht bloß zufällig aggregierte Folgen des Tuns von einzelnen Individuen. Es handelt sich eher um Folgen von fast immer mehrheitlichen und nicht bloß verbalen sondern tätigen Anerkennungen von Ideen, Handlungsformen und Urteilskriterien. Eben daher gibt es auch kollektive Verantwortungen. Die sich ergebenden Taten sind nicht als Folge von Zufällen, sondern von vermeintlichen oder wirklichen Not-Wendigkeiten zu erklären: Es gibt für die einzelnen Personen Gründe, welche die Teilnahme an einem gemeinsamen Tun bzw. seine Duldung oder Anerkennung erklären und oft die Form abzuwendender Probleme haben. Oft stehen sie freilich auch in einer Art Verblendungszusammenhang oder in einer rücksichtslosen Orientierung an bloß eigenen oder partikularen Interessen. Daher bedeuten geschichtliche Erklärungen noch lange nicht, daß durch sie die Taten sittlich-moralisch gerechtfertigt wären.

Hegels ‚Voraussetzung’‚ dass es in der Geschichte vernünftig zugegangen sei, ist dabei keine willkürliche oder auch nur fragwürdige Annahme über den Gang der Welt. Es ist eine begriffliche Voraussetzung für jede erklärende Geschichtsschreibung, die in der Lage ist, mit verschiedenartigsten Gründen umzugehen, nicht nur mit kausalprognostischen Erklärungsformen nach dem Muster der Technik und Physik und den evolutionären Geschichten post hoc nach Art der Naturhistorie.

Schon die Ereignisgeschichte als der (ideale) Gegenstand einer narrativen Historiographie setzt Kriterien der historischen Vernunft voraus. Diese Kriterien hatte bereits Schiller in seiner Jenenser Antrittsvorlesung als Glaubwürdigkeitsbedingungen für berichtsartige Geschichten thematisiert. Es gibt dann noch weitere kriteriale Bedingungen, nach denen wir auf Epochen begrenzte, geschichtliche Erklärungen anerkennen, die, gewissermaßen in einer zweiten Runde, selbst zu Kriterien der Beurteilung von Ereignisgeschichten werden, etwa im Rahmen von Schlüssen auf ‚die beste Erklärung’.

In erster Linie ist es daher ein Truismus zu sagen, dass sich demjenigen die Weltgeschichte nicht als vernünftig geordnete Entwicklung darbietet, der sie nicht ‚vernünftig’ ansieht. Es ist dies zunächst nur die Anwendung der kantischen Einsicht in die Konstruktivität allen humanen Wissens auf den Fall des geschichtlichen Wissens. Wissen ist Konstruktion, weil es als tradierbares und artikuliertes Wissen mehr ist als individuelles Wahrnehmen, Meinen oder Erleben. Allerdings es ist nicht etwa willkürliche oder subjektive Konstruktion.

Zugunsten einer reinen Ereignishistorie auf geschichtliche Erklärungen durch individuelle und aggregierte Intentionen zu verzichten, ist trotz der Schwierigkeiten bei der Identifizierung von Absichten nicht sinnvoll. Dies anerkennt auch der ‘methodische Individualismus’ der Geschichts- oder Sozialwissenschaften – allerdings ohne das Problem der Absichtsbestimmung hireichend ernst zu nehmen. Die Folge eines solchen Verzichts ist einfach die, dass Ereignisabläufe, die eine ‚vernünftige’ Erklärung erhalten können, als bloße Ereignisfolgen unbegriffen bleiben. Daher ist anzuerkennen, dass es ‚in der Geschichte selbst’ wenigstens insofern vernünftig zugeht, als einzelne Personen in ihrem Handeln manchmal Vernunft gebrauchen. Es gibt eine gewisse Kompetenz des Beabsichtigens, Planens, und freien Handelns. Freilich ist dann immer noch zu unterscheiden zwischen dem, was die Handelnden für vernünftig gehalten haben, und dem, was wir, als beobachtende Schiedsrichter, im Nachhinein als vernünftig oder unvernünftig bewerten.

Wenn wir dieses zugestehen, ist jedoch die Frage noch nicht beantwortet, ob es über individuelle Absichten im menschlichen Handeln hinaus etwas gibt, was Kant als „Naturabsicht" der Entwicklung vernünftiger Zustände im großen anspricht. Dabei teilt Hegel Kants Diagnose, daß es ein Bedürfnis gibt, Fortschrittshoffnungen zu rechtfertigen, gerade angesichts der Schrecknisse und Nöte im realen Verlauf der Welt und der drohenden Gefahr der Resignation.7

Hegels ‚Versöhnung’, d.h. sein Argument gegen einen verzweifelten Pessimismus, operiert nun gerade nicht, wie Kant, mit einer vage behaupteten Naturabsicht. Hegel spricht stattdessen von einem Prozeß der Selbstverwirklichung des Geistes, der Vernunft und ihrer Ideen. Dabei sollte die begriffliche Komplexität dieser Redeform nicht unterschätzt werden. ‘Wörtlich’ ist sie nämlich nicht zu verstehen. Wir sollten sie daher zunächst als Titel lesen, unter den sich die Frage stellt nach einer geschichtlichen ‚Wirklichkeit’ jenseits der kausal oder individualteleologisch erklärten Ereignisse und nach der Seinsweise dessen, was nicht nur bei Hegel mit den weiteren Titelwörtern “Vernunft,” “Geist” oder “Idee” angesprochen ist, und wie sich dieses im Laufe der Geschichte entwickelt.

2.2 Zu Begriff und Methode einer Entwicklungsgeschichte von Ideen

Individuelle, mehr oder minder ‚explizite’ Absichten, sind, wie wir gesehen haben, zu unterscheiden von den Fällen, in denen wir ‚implizit’ allerlei Praxisformen anerkennen, an ihnen teilnehmen, und dabei allerlei Projekte zwar nicht explizit, aber doch durch unser Tun befördern. Wir wissen oft nicht explizit was wir tun, wenn wir implizit an einem Projekt teilnehmen. Dies ist nicht einfach der Fall einer unsichtbaren Hand hinter dem Rückens eines Tuns, das aufgrund ganz anderer individualteleologischer Erwägungen gewählt wurde. Der Fall ist also nur bedingt analog zu A. Smiths Versuch, den Beitrag liberaler (in der Regel an der Verrentung von Kapital interessierter) Wirtschaft für ein allgemeines Wohl nachzuweisen. Er ist eher analog zum Fall eines Wissenschaftlers, der im Glauben, es gehe in seinem Tun um objektive Wahrheit in einem mehr oder weniger metaphysischen, unverstandenen, Sinn, in Wirklichkeit an einem durchaus schon vordiskutierten Projekt der Erweiterung gemeinsam kontrollierten Wissens und Könnens mitarbeitet. Der Geist der Wissenschaft existiert als wirksame Idee in und durch die Teilnahme am vorbedachten Projekt, über alle individuellen Verbalisierungen der Idee hinaus, die ja immer auch irreführen können.

Mit anderen Worten, Hegels ‚Vernunft’ entwickelt sich als System teils implizit, teils explizit bekannter oder anerkannter Ideen. Dies geschieht nicht gänzlich hinter unserem Rücken, auch wenn die Entwicklung unserem unmittelbaren Bewußtsein und Selbstbewußtsein in vielen Aspekten immer, auch nach allen Bemühungen expliziter Reflexion, partiell verborgen bleibt. Dennoch bleibt die Aufgabe, sich seiner eigenen Anerkennungen von Ideen nach Möglichkeit bewußt zu werden, um implizite Lebensformen und handlungsleitende Entscheidungen in autonome zu überführen.

Offene Anerkennungen machen das Anerkannte explizit, so dass wir nicht nur durch Tradition, sondern durch autonome Entscheidung an diesem und nicht an jenem Projekt der Formung unseres Lebens und das unserer Nachkommen arbeiten.

In der Rechtsphilosophie erklärt Hegel die wichtigsten methodologischen Grundideen seiner als Darstellung einer Strukturentwicklung konzipierten Weltgeschichte sinngemäß so:

Die philosophische Weltgeschichte stellt die Entwicklung des Realbegriffs der Vernunft dar. Sie tut dies in der Form der Beurteilung vom jeweils heutigen Standpunkt aus und ist insofern eine Gericht, in dem wir als gegenwärtige Schiedsrichter die je dargestellte Entwicklung als vernünftig bzw. stagnierend oder rückschrittlich, als Verderben oder Dekadenz, bewerten (§341). Dargestellt wird also nicht bloß die faktische Entwicklung etwa nach Art einer blinden Ereignisgeschichte. Auch wird diese nicht einfach als Wirkung eines bloß hypostasierten Geistes dargestellt. Es geht vielmehr um die Rekonstruktion des Für-sich-Seins der Vernunft, und das heißt gemäß der Terminologie der Seinslogik: der real erfahrbaren Existenz des Geistes. Dieser existiert im ‚Wissen’, gerade auch im impliziten Können und Handeln der betreffenden Menschen. Es geht also um die Rekonstruktion der die Entwicklung leitenden Ideen einer Gemeinschaft (§342).

Die Geschichte des Geistes, wie Hegel die Geistesgeschichte doppeldeutig nennt, ist als Entwicklungsgeschichte humaner Praxisformen zu verstehen. Als solche ist sie selbst die Tat des Geistes. Das heißt, es ist der jeweilige Geist einer epochal (d.h. temporal und lokal begrenzten) Gemeinschaft, der hier als quasi handelnde Instanz angesprochen ist. Und das wiederum heißt: Wir sind als einzelne nur geistvoll bzw. vernünftig in dem, was wir tun, und zwar wenn dieses Tun als geistvoll bzw. als vernünftig bewertbar ist. Es gibt Geist und Vernunft nicht außerhalb unseres Tuns und nicht außerhalb unseres Beweretens. Aber es ist nicht alles Tun geistvoll, schon gar nicht ist alles Tun vernünftig.

Unsere gemeinsame Tat in einer philosophischen, d.h spekulativ-reflektierenden Entwicklungsgeschichte der humanen Welt besteht darin, uns selbst, und zwar in der Form der Idee, die uns als Personen in einer Menschheit definiert, „zum Gegenstande unseres Bewußtseins zu machen, uns für uns selbst auslegend zu erfassen" (§ 3. 3). Mit anderen Worten, die Erweiterung von Selbstbewußtsein und der Autonomie ist selbst eine Folge unseres Handelns, aber nicht einfach des rein aggregierten individuellen Handelns, sondern des Handelns gemäß einer implizit anerkannten Idee. Es ist die jeweilige Sittlichkeit oder die ‚moralische’ Welt, die den anerkannten Rahmen des personalen Handelns abgibt und hier als wirkender Geist angesprochen ist.

Dabei ist zu beachten, dass alle, die „in den Ausdrücken von Vorsehung und Plan der Vorsehung den Glauben eines höheren Waltens aussprechen“, auch „ausdrücklich den Plan der Vorsehung für ein ihnen Unerkennbares und Unbegreifliches” ausgeben. Damit strafen sie ihre eigene Forderung, dass wir uns in der Geschichte selbst erkennen sollten, Lügen (§344). Das „Erkenne dich selbst" tragen sie nur wie einen Blumenstrauß, als schönes Motto, vor sich her. Mit anderen Worten, Hegel fordert eine Realerklärung der üblicherweise anerkannten, aber nicht begriffenen, Reden von einem Plan oder Walten der Vorsehung. Und er versucht, den Grund für die scheinbare Unerklärbarkeit der Entwicklung der Idee der Autonomie wie folgt aufzuklären: „Die Staaten, Völker und Individuen in diesem Geschäfte des Weltgeistes stehen in ihrem besonderen bestimmten Prinzipe auf, das an ihrer Verfassung und der ganzen Breite ihres Zustandes seine Auslegung und Wirklichkeit hat, deren sie sich bewußt und in deren Interesse vertieft sie zugleich bewußtlose Werkzeuge und Glieder jenes inneren Geschäfts sind, worin diese Gestalten vergehen, der Geist an und für sich aber sich den Obergang in seine nächste höhere Stufe vorbereitet und erarbeitet" (§344).

Gemeint ist damit das folgende: In einer Epoche bestimmen je individuelle Absichten und zeitgenössische Anerkennungen von Ideen und Handlungsformen das, was getan wird. Dabei ist die Bewußtheit der Lebens- und Handlungsverhältnisse, auch der Absichten und der Folgen des Tuns, auf das in der Epoche Mögliche beschränkt. Insofern kann es vieles geben, was sich im Rückblick anders darstellt als aus der Zeit heraus. Im Rückblick kann man z. B. Anfänge späterer Entwicklungen ausmachen, die man in der Zeit noch gar nicht oder kaum bemerkt. Im Blick auf das spätere Interesse gilt dann durchaus, was Hegel etwas rabiat sagt: Die Erfüllungen bloß der bewußten Ideen und Absichten einer Epoche gehen eine Entwicklungsgeschichte wenig an.

Allerdings sollte dann noch hinzugefügt werden, dass sich die impliziten Anerkennungen von Verschiebungen, die als Entwicklungen einer die Epoche übergreifenden Idee rekonstruiert werden, auch dann, wenn sie in der Epoche nicht bewußt gemacht sind, aus der jeweiligen Epoche selbst ergeben müssen und nicht bloß im Nachhinein auf den Gang der Dinge projiziert werden dürfen.

Die Weltgeschichte im Sinne einer Entwicklungsgeschichte von heute anerkannten Formen oder ‘Strukturen’ oder Kriterien des gemeinsam als ‘vernünftig’ oder ‘richtig’ bewerteten Handelns ist aus begrifflichen Gründen perspektivisch auf uns bezogen, also auf das Wir derer, welche diese Geschichte schreiben und beurteilen. Dies ist unser „absolutes Recht", insofern es unhintergehbar ist (§345). Das heißt nicht, dass die rekonstruierte Geschichte nur unsere Vor-Urteile bestätigt, sondern dass unsere Debatte um die angemessene Geschichte aus der Gegenwart nicht aussteigen kann, weder in die Vergangenheit, diese ist als solche unverfügbar, noch in die Zukunft, diese ist noch nicht. Auf sie zu warten bedeutet das Ende oder den Verzicht auf die gegenwärtige Debatte, die Suspension des Urteils. In ähnlicher Weise können wir auch nicht in eine andere, uns ganz fremde Kultur aussteigen – es sei denn, wir ändern uns. Dies bedeutet weder, dass Hegels oder meine oder Ihre Geschichte ‚die wahre’ ist; noch dass wir fremde Kulturen nie ‚verstehen’ könnten. Es bedeutet vielmehr, dass unsere jeweiligen Realbewertungen der vorgetragenen Geschichten oder vorgeschlagenen Übersetzungen bei aller Vielfalt und allem gegenseitigen Dissens unsere Bewertungen bleiben, d. h. auf ein konkretes Wir bezogen bleiben. Wie dieses Wir im einzelnen zu bestimmen ist, das hängt vom Kontext ab.

„Kein Individuum kann über diese Substanz hinaus" sagt Hegel in den Vorlesungen „es kann sich wohl von anderen einzelnen Individuen unterscheiden, aber nicht von dem Volksgeist"8, der nicht etwa einfach als Nationalcharakter zu lesen ist, sondern viel eher als Geist einer Epoche. Damit wird klar, dass Hegels Begriff des Geistes einer Epoche oder Volkes die ‚transzendentale’ Begrenzung der Möglichkeiten des ‚vernünftigen’ Urteilens und Handelns aus der Binnensicht der Epoche nennt. Jede Überschreitung dieser Grenze wird (wenigstens prima facie) leeres, willkürliches Gerede oder gar Unsinn sein.

Eine begriffliche Tatsache wie diese wird falsch verstanden, wenn man sie zu schnell mit der Gefahr der Apologetik gegenwärtiger Zustände in Verbindung bringt. Diese Gefahr gibt es, und zwar aus strukturellen Gründen. Denn man verwechselt schnell allgemeine Sinn- und Geltungskriterien und deren Anerkennung mit Einzelurteilen, generelle Formen des Lebens und Handelns mit besonderen Verhaltensweisen. Oder man meint, man könne die Kriterien oder Formen nach Belieben, willkürlich, verändern.

Die *„Stufen der Entwicklung“* sind in einem Volk „als unmittelbare natürliche Prinzipien vorhanden" (§345). Dabei bedeutet die angesprochene Natürlichkeit nichts anderes, als dass entsprechende Prinzipien des gemeinsamen Handelns bzw. der Sittlichkeit als selbstverständlich anerkannt sind. Das Wort „natürlich” verweist also im Sinne des griechischen Wortes „physis" auf einen Stand einer Entwicklung, nicht auf die Natur der Physik oder sonst einer ‚Natur’-Wissenschaft.

„An der Spitze aller Handlungen, somit auch der welthistorischen, stehen Individuen als die das Substantielle verwirklichenden Subjektivitäten (§279 Anm.)", schreibt Hegel im §349 und anerkennt damit das Primat des individuellen Handelns. Insofern die Akteure aber von der „substantiellen Tat des Weltgeistes" in ihrem Tun gar nichts wissen, also davon, welche explizit anerkennungswürdigen und dann hoffentlich bleibenden Handlungsformen durch ihr Tun entstehen, erhalten sie nur im Rückblick den Ruhm, ‚Agenten’ des kulturellen Fortschritts zu sein.

Den Anfang einer sittlichen Ordnung freier Kooperation sieht Hegel in der Familie, „in der Ehe“. Den Anfang einer rechtlich geordneten Arbeits- und Güterteilung im „Ackerbau” (§350). Er spricht dann von einem „absoluten Recht der Idee" (sc. des Projekt der Errichtung einer anerkennungswürdigen Ordnung in einer Personengemeinschaft), und meint dies wie auch die Rede vom „Heroenrecht zur Stiftung von Staaten" im bewertenden Rückblick der Entwicklung institutioneller Ordnungen von heute aus. Die Form der realen Verwirklichung dieser Ordnung erscheint je nach der Perspektive des Bewerters „als göttliche Gesetzgebung und Wohltat" oder auch als „Gewalt und Unrecht", wie auch der §351 zeigt.

3. Die Entwicklung der Idee der Person und der zugehörigen Praxisformen

3.1 Entwicklung des Selbstbewußtseins

In einer Geschichte der Entwicklung grundsätzlicher Formen des gemeinsamen Handelns und des Selbstverständnisses der Personen in den gegebenen Rahmenbedingungen werden „die konkreten Ideen, die Völkergeister" so dargestellt, dass ihre wahre „Bestimmung" in die Entwicklung des ‚Weltgeistes’, der Idee einer gemeinsamen Menschenwelt oder eines Weltbürgertums gelegt wird (§352). Es ist eine partiell ironische Auslegung theologischer Rede, wenn Hegel die besonderen Ideen wie Engel um den Thron des Weltgeistes aufstellt „als die Vollbringer seiner Verwirklichung und als Zeugen und Zierate seiner Herrlichkeit".

Die Rede vom Weltgeist ist dabei nur als Ausdruck für „die Bewegung seiner Tätigkeit" zu verstehen, „sich absolut zu wissen“. Das heißt, es geht um die Entwicklung des Begriffs der Person, die sich selbst, d.h. die Entwicklung ihrer eigenen Möglichkeiten begreift und damit von sich selbst, sozusagen, allererst autonom Besitz ergreift. Es geht darum, das „Bewußtsein von der Form der natürlichen Unmittelbarkeit zu befreien und zu sich selbst zu kommen” (§352).

Hegel nennt dann vier „Prinzipien der Gestaltungen dieses Selbstbewußtseins in dem Gange seiner Befreiung, der welthistorischen Reiche", die ich im folgenden nicht abstrakt, nach der Rechtsphilosophie, sondern konkret, in einer Zusammenfassung von Hegels Versuch einer philosophischen Weltgeschichte in den Vorlesungen rekonstruiere.

3.2 Weltgeschichtsphilosophie

Hegels großer Gang der Weltgeschichte beginnt mit einigen – bei ihm immer sehr kruden oder kantigen – Bemerkungen zu dem, was er alles zur vorgeschichtlichen Epoche rechnet. Die eigentliche Weltgeschichte läßt er beginnen mit dem Typus des ‚Orientalischen Reiches’, in dem ‚nur einer frei’, nämlich Autokrat von (scheinbar) unendlicher Würde ist, der Pharao oder der Großkönig. Paradigmatischer Ort für diesen Anfang der Entwicklung der Idee des Weltbürgertums ist das babylonische und persische Reich. Hier finden wir eine von den Völkern anerkannte Hierarchie, die außerhalb des Bereichs der militärischen Macht im ökonomischen und religiösen Lebens den Völkern relative Freiheiten läßt und daher praktisch anerkannt wird. Die Anerkennung der Ordnung fußt auf dem Prinzip des Nutzens. Die Idee der rechtlichen und moralischen Gleichheit oder gar der Würde der Person gibt es nicht, wohl einen relativen Wohlstand und damit auch so etwas wie eine implizite Einsicht in den Nutzen der Hierarchie und ihrer Macht. Alle Menschen, außer dem König, dem einen Freien, sind Subjekte, Untertanen.

In der Beurteilung der Werte des Wohlstandes oder ‚Genusses’ und der Autonomie entscheidet sich der Adel der Städte in Hellas, zum Teil anders als in Ionien, eindeutig für die Freiheit. Hier sind einige frei. Hier herrscht immerwährender Kampf in den Städten und zwischen den Städten um Autonomie, Anerkennung, Ehre, um Teilhabe an der Herrschaft. Paradigmatisch für diesen Typ des Staates und die Form seiner Anerkennung ist eher Sparta als Athen. Das timokratische Ideal der Unabhängigkeit des Adels samt einer freien Gefolgschaftsordnung wird symbolisiert durch den griechischen Helden. Daher ist Homer mehr als ein Dichter, er ist Darsteller frühgriechischer Sittlichkeit.

Das Ideal des abendländischen Helden ist freilich zugleich Bestandteil einer Ideologie der (Gewalt-)Herrschaft von Geburtseliten9. Dabei sieht Hegel deutlicher als viele Philhellenen, welche die moderne Gegenwart in die Antike projizieren, dass auch noch die Demokratien in der griechischen Polis im Grunde als Adelsherrschaften anzusehen sind, nicht etwa nur wegen der Sklaven, sondern auch wegen der extrem begrenzten Bürger- und Personenrechte.

Der Sieg Griechenlands über Persien, endgültig im Alexanderzug, bedeutet, so lese ich Hegel, die Ablösung der orientalischen Reichsidee durch eine sich zersplitternde Adelsherrschaft. Gleichzeitig entwickelt sich der Typus des Privatmannes, der sich von der Politik, von Mitbestimmungsansprüchen, in ein rein ökonomisches, auf sein Haus und seinen Garten beschränktes Leben zurückzieht.

Die Herrschaft Roms beginnt als die einer Räuberbande, die sich, hobbesianisch, eine Rechtsordnung zum gegenseitigen Schutz privater Aneignungen schaffen muss. Das Rechtsinstitut des Privateigentums läßt Hegel damit, nicht ohne Ironie, in Anspielung auf Rousseau und vor Proudhon, aus Diebstahl und Raub hervorgehen. Die römische Republik ist ein Entwicklungsstadium des Kampfes um Macht, der hier immer als Kampf um Privatbesitz, um Anteil an Beute geführt wird. Der Kampf findet statt in und zwischen den beiden Klassen höherer und niederer Stadtgeschlechter, den Patriziern und den Plebejern, später dann auch zwischen Stadt und Militär. Umkämpft sind zwar durchaus auch Rechte der Mitbestimmung in politischen Angelegenheiten, dies aber wesentlich im Blick auf Sicherung von Privatansprüchen, z.B. der Selbstbedienung der Beamten in den Provinzen oder der Versorgung von Veteranen in Kolonien. Mit dieser Orientierung am Privatbesitz entwickelt sich eine staatlich sanktionierte legale Rechtsordnung. Rom wird zum ersten Rechtsstaat der Geschichte mit so etwas wie bürgerlichem Privatrecht.

Nach den Eroberungen, zunächst Karthagos, der wesentlichen Teile des Alexanderreiches, schließlich Galliens und einer Hälfte Germaniens, wird mehr und mehr klar, dass die Leitung und Verwaltung eines Großreiches einer anderen, zentraleren, hierarchischeren Verfassung bedarf als die einer Stadt. außerdem wird (an)erkannt, dass zwischen der Partizipation an der politischen Herrschaft durch Adelsfamilien und der Sicherung ihres privaten Interesses und Rechts durch den Staat kein notwendiges Junktim besteht. Daher, und nicht etwa historisch zufällig oder aus rein individualpersönlichen Gründen, wird die Usurpation Cäsars und Oktavians trotz aller Lippenbekenntnisse etwa für Brutus oder Cato gerade auch vom Hochadel Roms am Ende anerkannt.10 Daher kann das Prinzipat bzw. der Cäsarismus die Adelsrepublik ablösen.

Am Ende ist jeder, d.h. zunächst jeder Mann als Familienoberhaupt, wenn er nicht Sklave ist, rechtlich geschützter Reichsbürger. Im römischen Kaiserreich ist die Idee der grundsätzlichen rechtlichen Gleichheit der Bürger schon wirksam.

Parallel entwickelt sich der noch radikalere Gedanke der moralischen Gleichheit und personalen Würde aller Menschen, also auch der Sklaven. Die Verabscheuung der Sklaverei hat in der Idee des Christentums ihren Ursprung – allen Kriminalgeschichten des Christentums zum Trotz. Für Hegel wird das Christentum auch nicht ‚zufällig’ zur römischen Staatsreligion. Denn seine Grundidee, die grundsätzliche Gleichheit aller Menschen ‚vor Gott’, d.h. vor einer nicht bloß positiv-rechtlichen Beurteilung der Menschenwürde, findet Anerkennung, und zwar weil sie Anerkennung verdient. Es handelt sich um eine not-wendige Entwicklung der ethischen Grundidee der Person, die artikuliert wird im religiösen Kontext. Das Wort „notwendig" sagt dabei nicht: „es konnte nicht anders kommen", sondern drückt aus, dass etwas als Lösungsversuch eines anerkannten Problems, einer Not, anerkannt wird.

Das Christentum entwickelt sich zwar faktisch aus der jüdischen Nationalreligion. Die Idee selbst aber ist, Hegel zufolge, ‚hellenistisch-römisch’. Dem Gedanken nach ist die neue Religion nämlich universalistisch. Sie ist als solche, wie später auch der Islam, Weltreligion. außerdem vertritt sie ‚kommunitaristische’ Prinzipien wie die der freien Assoziation Gleichgesinnter in einer Gemeinde oder Kommune und dann auch, im abendländischen Mönchtum, in einer Ordensgemeinschaft mit Gemeinschaftseigentum. Die Ausbreitung des Christentums ist nicht einfach durch historische Zufälle zu erklären oder im Rahmen einer ‘Evolution’ von Kulturen nach dem Prinzip des ‘Überlebens,’ das post hoc zur tautologischen Erklärung des real Geschehenen wird, sondern in der nachvollziehbaren Attraktivität seiner Grundideen. Es gab Gründe, nicht bloß Ursachen11.

Das germanische Reich ist ab dem 8. Jht. wesentlich geprägt durch die antagonistische Koalition zwischen dem Bischof von Rom und dem (zunächst fränkischen und dann ‘deutschen’) Kaiser einerseits, die Entstehung von unabhängigen Großstaaten im Westen, andererseits. Dabei bleibt die römische Errungenschaft der privaten Rechtssicherheit und die christliche der universalen ethischen Würde der Person unter widrigen Umständen wenigstens dem Gedanken nach aufgehoben. Hinzu kommt die Realidee der individuellen Freiheit der germanischen Barbaren mit ihren Clans und ihren freien Bauernfamilien. Aus Schutzbedürfnis und Gefolgschaft, ferner aus den Ministerialen entwickelt sich ein heroisches, adliges, ‚freies’ Rittertum – und die Leibeigenschaft als persönliches Besitz- oder Eigentumsverhältnis in einer mehr und mehr privatrechtlich organisierten Lehensordnung. Der Zerfall der Anerkennung von Papstkirche und Kaiserstaat war dann, so ist Hegel wohl zu lesen, strukturimmanente Folge eben dieser ‚privatistischen’ Umorganisation der ursprünglichen Gefolgschaftsordnung der Clans und Stämme. Die Schwächung der Reichsidee beginnt mit Gregor VII und führt mit dem Scheitern der Stauffer zur privatrechtlich organisierten Macht des Hochadels (mit seinem Klientel). Nicht nur, aber auch technische Erfindungen wie das Schießpulver besiegeln nach Hegel den Untergang des Rittertums.

Die eigentliche Überwindung dieser Antagonismen leistet am Ende erst die protestantische Reformation. Sie läutet nach Hegel die eigentliche Neuzeit oder Moderne ein. Ihre Ideen sind personale Autonomie, die gleiche (moralische) Würde aller (Christen)Menschen samt deren ‚unendlicher’ Vorrang vor allem ‚Genuß’ oder materiellem Nutzen. Gleichzeitig ‚versöhnt’ die Reformation tendenziell das Private, Besondere, mit dem Allgemeinen, das Eigentum mit der Sozialmoral, das Streben nach Selbstbestimmung mit der Anerkennung staatlicher Macht und einer machtgestützten Rechtsordnung.

Die französische Revolution wird dann als Versuch der politischen Machtergreifung des Bürgertums begriffen, das – gerade bei Robespierre – daran scheitert, dass es keine allgemein anerkannte ‚Zivil- oder Vernunftreligion’ als Stütze der neuen Verfassung gibt. Robespierres Herrschaft der subjektiven Tugend, der sich ihrer selbst allzu sicheren, eben daher terroristischen ‚Moral’, widerspricht der Forderung nach freier Anerkennung. Am Ende scheitert die politische Revolution, das scheint Hegel sagen zu wollen, weil in Frankreich die religiös-ideologische Reformation gescheitert war. Die Idee der personalen Würde hatte nicht genügend Fuß gefaßt, trotz der Fahnen der Freiheit, Gleichheit und Fraternität. Bonaparte scheitert aus dem gleichen Grund. Er erhält nicht die Anerkennung die er der Zielsetzung nach verdient, weil er mit den falschen Mitteln vorgeht, sich einfach über faktisch anerkannte Traditionen mit Gewalt hinwegsetzt. Die Folge ist, dass er nicht den erhofften Weltbürgerstaat bringt, sondern den Nationalismus, und zwar in Spanien ebenso wie in Italien, Rußland und Deutschland.

Die katholischen Länder wie Spanien und Frankreich bedürfen nach Hegels Ansicht erst einer ideologisch-religiösen bzw. moralischen Reformation. Das preussische Deutschland, die protestantischen Niederlande oder auch England dagegen bedürfen dann keiner gewaltsamen Revolution, wenn sich die Ideen der Reformation durch faktische Anerkennung auch im Staate durchsetzen und damit entwickeln.

„Bis hierher ist das Bewußtsein gekommen", sagt Hegel nach der Schilderung der Errungenschaften der französischen Revolution, wie sie auch zur Reform der preussischen Verfassung geführt hat, zur Aufhebung der Leibeigenschaft, zur Einrichtung des Rechtsstaates, eines öffentlichen Bildungswesens, einer Gewaltenteilung und zur grundsätzlichen Anerkennung der rechtlichen Gleichheit der Bürger.

Die Kritik, daß Hegel einen ‘allzu einfachen’ Gang der Geschichte schildere, scheint mir dabei das Wesentliche zu verfehlen. Denn eben diese fast bildzeitungsartige Einfachheit ist das Ziel. Es liegt am Leser, wenn er mit einer solchen spekulativen Skizze nichts anfangen kann. Wenn er eine andere malt, so sollte er es mindestens ebenso gut machen. Wenn er das Bild auszumalen wünscht, dann will er etwas anderes. Hegel will eine Skizze idealtypisierter Epochen der Weltgeschichte. Er nennt und schildert dabei, oft etwas abgehackt und unverbunden, wichtige Momente der Geographie, der Arbeitsweisen, der Ereignisse etc., welche nach seinem Urteil die Entwicklung mitbestimmt haben. Dass dabei vieles ungenau und ungerecht sei, die Überschätzung Westroms, der Reformation oder Bonapartes, vielleicht, oder die Unterschätzung und Mißachtung des Islam oder des Katholizismus, ist ein Vorwurf, der unvermeidlich kommt. Gerade hier beginnt aber die Debatte der Strukturgeschichte.

Wie immer sie weitergeht, es ist nicht eine ewige Natur-Absicht, welche die geschilderte Entwicklung leitet, und auch nicht einfach eine unsichtbare Hand hinter dem Rücken der individuellen Interessen und Absichten, Motive und Zufallsentscheidungen der einzelnen Akteure. Es ist die Macht der anerkannten Ideen wie der Staats- und Rechtsordnung oder der Sittlichkeit. Ihr steht das Prinzip der subjektiven Moral nur insofern gegenüber, als es das Bedürfnis der freien Anerkennung der sittlichen Tradition bzw. deren Fortschreibung befriedigt.

  1. . In der Bewertung seiner eigenen Gegenwart kommt Hegel allerdings nicht über die beiden Prinzipien, das sittlich-moralische des Protestantismus und das rechtsstaatlich-‚römische’ des Bonapartismus hinaus. An Preussen lobt er die Stein-Hardenbergischen Reformen. Diese sind, wie Hegel weiß, als Kopie und auf Druck des französischen Vorbilds erst möglich geworden. Sogar noch seine Ablehnung der Verfassung Englands speist sich aus der Differenz zu den Ideen seines Weltgeists, des Bonapartismus. Demgegenüber hatte schon Fichte die nationale Republik propagiert. Zwar erkennt auch Hegel die Ambivalenz der ‚Befreiungs’kriege: Bürgerliche Ordnungen lassen sich nicht oktroyieren, ohne dass ein Widerspruch zur Idee der autonomen Anerkennung entsteht. Wenn Hegel Preussens Verfassung als Paradigma einer relativ guten Staatsverfassung lobt, dann geht es um das reformierte und partiell vielleicht idealisierte Preussen. Aber die ‚neuen’ Ideen und Ideale des Vormärz waren nicht die seinen: Der Rechtsstaat ist ihm wichtiger als die nationale Mehrheitsdemokratie. Allerdings nennt er als einer der ersten das Proletarierproblem, die fast totale Abhängigkeit der Arbeiter von einer fremdbestimmten Arbeits- und Güterverteilung, die jede Mit- und Selbstbestimmung marginalisiert.

Hegel scheint, andererseits, nicht einmal das schleichende ‚Verderben’ – um in seiner eigenen Terminologie zu sprechen – der preussischen Verfassung nach den Karlsbader Beschlüssen begriffen zu haben, das bis hin zum süßromantischen Neofeudalismus unter Wilhelm II führt. Schon gar nicht sieht er die Gefahren der ideologischen Macht der Mandarine, die sich aus der unheiligen Allianz zwischen der akademischen Intelligenz und dem Staat ergeben können und sich gegen Ende des „19." Jahrhunderts, von 1814 bis 1914, auch wirklich ergeben haben. Aber wer kann sagen, ob man das zu seiner Zeit hätte absehen können. Eine Diskussion von Gefahren zukünftiger Entwicklungen wäre vielleicht möglich gewesen. Aber das gehörte nicht mehr in den geschichtlichen Diskurs, der als solcher gerade auch für Hegel Standortbestimmung der Gegenwart ist, aus dem Blick des Abendvogels, der Eule.

3.3 Fazit

Die Not-Wendigkeiten, mit denen wir die Entwicklung humaner Praxisformen ‘erklären,’ liegen nicht in ewigen, durch historische Forschung erkennbaren, Gesetzen. Es handelt sich um Gründe im Kontext der Abwendung von Nöten und Problemen. Erklärbar sind kulturelle Prozesse dadurch, dass wir die Problemlagen und die anerkannten Lösungen schildern, und zwar vor dem Hintergrund der (freilich ihrerseits zu rekonstruierenden) Kriterien, Wertungen und Orientierungen der gegebenen Sittlichkeit einer Zeit.

Ideen wirken über Anerkennungen. Diese sind nicht bloß verbale Zustimmungen. Sie bestehen in einem entsprechenden Handeln oder Nicht-Handeln, in einem Verhalten nach gewissen Mustern, in der faktischen Teilnahme an einer Praxisform, gerade auch im Ausbleiben von Protest und Widerstand. Dies ist auch deswegen wichtig, weil militärische und polizeiliche Macht im Unterschied zur Macht der Idee auf Dauer allein nichts vermag.

Es ist keine metaphysische ‚List der Vernunft’, welche die Entwicklungen erklärt. Hegel ersetzt keineswegs einfach Kants „Naturabsicht" oder Smiths „Unsichtbare Hand" wie manche Interpreten meinen. Die Rede von der ‚List der Vernunft’ verweist nur auf die Differenz zwischen Sagen und Tun. Es gibt ja Fälle des Widerspruchs zwischen einer verbalen, expliziten, Anerkennung von Ideen und einem faktischen, ggf. impliziten, Tun. So könnte man es als eine List der Vernunft in Hegels Sinn ansehen, dass die deutschen Studenten der 68-er Jahre verbal gegen den ‚Amerikanismus’ Stellung nehmen, faktisch aber US-amerikanische Bewertungs-, Sicht- und Lebensweisen allererst in Westdeutschland einführen.12

Hegels Analyseform erlaubt es, über langdauernde Durchsetzungen von ‚Ideen’ zu sprechen und über ihre Wirksamkeit als geteilte Projekte. Er tut dies in einer ‚rationalen Rekonstruktion’, um die gegenwärtigen Ideen und Projekte besser zu begreifen und autonomer beurteilen zu können. Der Zweck liegt also in der Gegenwart. Diese bildet auch das begrifflich notwendige Ende jeder rekonstruierten Entwicklungsgeschichte. Wie dieses Konzept als teleologische Geschichtsphilosophie abgestempelt werden konnte, das erklärt nur die Rezeptionsgeschichte und ist nicht mein Thema oder Problem. Ein Anlass für diese Rezeption mag die schwere Lesbarkeit von Hegels Texten im Ganzen sein, trotz der häufig scharfen, ja schlagenden, Formulierungen.

Zum Schluß erklärt Hegel noch einmal, im Rückblick: „Die Weltgeschichte ist nichts als das Bewußtsein der Freiheit." – „Die objektive Freiheit aber, die Gesetze der reellen Freiheit fordern die Unterwerfung des zufälligen Willens." – „Die Philosophie hat es nur mit dem Glanze der Idee zu tun, die sich in der Weltgeschichte spiegelt .. Ihr Interesse ist, den Entwicklungsgang der sich verwirklichenden Idee zu erkennen, und zwar der Idee der Freiheit, welche nur ist als Bewußtsein der Freiheit." „.. dass die Weltgeschichte dieser Entwicklungsgang und das wirkliche Werden des Geistes ist, unter dem wechselnden Schauspiel ihrer Geschichten – dies ist die wahre Theodizee, die Rechtfertigung Gottes in der Geschichte." Und schließlich: „Nur die Einsicht kann den Geist mit der Weltgeschichte und der Wirklichkeit versöhnen, dass das, was geschehen ist und alle Tage geschieht, nicht nur nicht ohne Gott, sondern wesentlich das Werk seiner selbst ist."

Die Zweideutigkeit des letzten Satzes ist gewollt: Alles, was in der Menschenwelt geschieht, ist das Werk des Geistes, d. h. unser Werk. Insofern es zugleich das Werk Gottes ist, fällt dieser in eins mit unserem Geist – wenn wir nur das „uns" hier richtig verstehen. Dabei besteht die Versöhnung nicht etwa darin, dass alles, was als Folge unseres Tuns geschieht, gut und vernünftig wäre. Daher widersprechen auch die Schrecken unserer Epoche der Hegelschen Theodizee nicht. Denn der berüchtigte Satz, dass das Vernünftige wirklich sei, hat die wesentliche Lesart, dass es die Kriterien des vernünftigen Urteilens und Handelns wirklich gibt, dass diese weitgehend anerkannt und auch wirksam, wenn auch keineswegs immer wirksam sind. Und dass das Wirkliche vernünftig sei und nicht bloß vernünftig sein solle, hat die vernünftige und daher wohl wirklich intendierte Lesart, dass nur in einer vernünftigen Rekonstruktion der Genese der von uns für anerkennungswürdig befundenen Wertungskriterien aus dem historisch Gegebenen das je Wesentliche und Wirkliche gefunden werden kann, jenseits bloßer Zufälle und rein individueller Absichten, einerseits, jenseits der schlimmen Taten und des Verderbens ganzer Epochen, andererseits.

4. Literatur

Anmerkung von KF: Vergleiche auch den Artikel zum Zweckorientierten Handeln vom selben Verfasser.


  1. Der Mißbrauch des Wortes “Gemeinschaft” in völkischen Politikkonzepten sollte uns nicht sprachlos oder differen­zierungsarm machen. Es sollte reichen, wenn wir auf die Gefahr falscher Konnotationen hinweisen und diese explizit ausschließen: Eine politische Gemeinschaft ist nicht so zu verstehen, daß alle die gleichen Grundansichten zum guten Leben teilen, sondern daß alle allen die Möglichkeit freier Entwicklungen einer Konzeption des guten Lebens zugestehen.↩︎

  2. Soziologen wie F. Tönnies oder N. Elias haben diese Einsicht gegen den methodologischen Individualismus bei Max Weber verteidigt. Zum Teil paßt Webers strukturgeschichtliches, idealtypisierendes Vorgehen freilich nicht zu seinen verbalen Bekennt­nissen.↩︎

  3. Wenn Rorty ein Primat der Politik vor der Philosophie vertritt, so könnte ihm Hegel zustimmen, da es der Philosophie immer schon um eine ‚gute’ Gesamtverfassung der menschlichen Verhältnisse geht, wobei das Maß der erreichte Stand der Autonomie ist.↩︎

  4. Eine Idee bzw. ein Organismus entwickelt sich, eine Art breitet sich in Abhängigkeit von Umweltbedingungen aus (oder auch nicht). Unser Problem läßt sich zuspitzen zur Frage, inwieweit das Entwicklungs- oder Organismusbild eine angemessene Analogie für eine Ideengeschichte darstellt, und wie weit eine ‘evolutive’ Kulturgeschichte, die wirklich ernst macht mit dem Verzicht auf teleologische Erklärungen, angemessen, wie weit sie unzureichend ist. Ein Problem gegenwärtiger Strömungen evolutionärer Kulturanthropologie ist, daß die letzte Frage nicht gestellt und untersucht wird. Stattdessen wird sie zugunsten einer evolutiven und ‘empirischen’ Ausbreitungstheorie apriori beantwortet. Ein anderes Problem entsteht, wenn, wie zumeist, Evolution nicht von Entwicklung unterschieden wird.↩︎

  5. Sittlichkeit, Kultur und auch Welt sind Titel, die allgemein über die Möglichkeiten des individuellen und gemeinsamen Handelns gesetzt sind und die Besonderheiten von rechtlichen, politischen und ökonomischen und insbesondere religiös-ideologischen Einrichtungen oder eben ‚Institutionen’ der jeweiligen Epochen umfassen. Dazu ist noch einmal zu sagen, dass die Epochen selbst nicht in einer absoluten Chronologie bestimmt werden, sondern definitorisch abhängig bleiben von den Entwicklungsstufen der ‚moralischen Welt’, soweit wir heute an ihnen und ihren Unterschieden ein Interesse nehmen. Ideen, Praxisformen und ihre besonderen Auffassungen formen das gemeinsame und das individuelle Leben der Menschen der jeweiligen Epoche grundsätzlich.↩︎

  6. Vor Hegel gab es weder das Bedürfnis noch die Möglichkeit, die kantische Transzendentalphilosophie zusammen mit seinen realphilosophischen Spekulationen zur Geschichte in weltbürgerlicher Absicht durch Einbettung in die Idee einer Entwicklungsgeschichte zu ‚retten’.↩︎

  7. Es handelt sich dabei um einen besonders allgemeinen Fall des kooperations­theoretischen Dilemmas, nach welchem das Glücken freier Kooperation in der Regel abhängt von der Hoffnung auf den Erfolg, inbesondere aber von der Hoffnung auf die Kooperation der Mitspieler. Diese Struktur wurde in der Philosophie lange vor jeder Debatte um das heute berühmt gewordene Gefangenendilemma explizit thematisiert, und zwar bei Kant unter dem Titel der Frage “was dürfen wir hoffen” – wenn wir, gemäß der Urteilsmaxime des kategorischen Imperativs, frei kooperativ handeln. Die Erfahrung einer sich im kooperativen Handeln partiell selbst erfüllenden Hoffnung ist längst bekannt und wird etwa unter Titeln wie: “Moral eines Heeres” oder “Psychologie des Marktes” schon längst in ihren Folgen diskutiert ist.↩︎

  8. Cf. Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Bd. I: Die Vernunft in der Geschichte. Hamburg (Meiner, Phil. Bibl. 171a) S. 60.↩︎

  9. Gerade auch noch im Nationalismus und Rassismus unserer Zeit spielt dieses Heldentum eine ideologisch hochbedeutsame Rolle, auch wenn die Adelselite jetzt durch ein auserwähltes Volk ersetzt wird.↩︎

  10. Eine analoge Umwandlung der politischen Machtansprüche des Adels in Ehrenämter und privates Besitztum hat dann auch die französische Krone im Absolutismus erfolgreich praktiziert.↩︎

  11. Die politische Ordnung des byzantischen Kaiserreichs zeigt nach Konstantin Tendenzen zur Autokratie des Basileus, die zum ‘Verderben’ führen, wie Hegel sagt, d.h. zu einem Rückfall in eine ‘orientalische’ Gesell­schafts­struktur und damit zum Zerfall der Einheit, der Anerkennung, des Reiches.↩︎

  12. Das Wort “Vernunft” unterstellt dabei freilich, dass die neuen Lebenshaltungen als besser zu werten sind als die des besinnungslosen Aufbaus der Kriegsgeneration in den 50-er Jahren.↩︎