Es ist kein Streitpunkt in der politischen Philosophie der Gegenwart, daß Menschen das Recht haben, sich selbst zu verwirklichen und daß der Staat dafür Bedingungen bereitstellt. Kontrovers ist dagegen, etwa zwischen Liberalen und Kommunitariern, ob dies bloß negative oder auch positive Bedingungen sind.

Hat der Staat nur die Unabhängigkeit der Individuen voneinander zu garantieren, so daß jeder sich sein Bild von sich selber entwerfen – oder auch entdecken – und danach sein Leben gestalten kann? Oder bieten die Grundwerte einer Staatsordnung, zumindest die politische und rechtliche Kultur, ein Reservoir an Normen, Werten und Verhaltensmustern, die für die Selbstverwirklichung der Bürger von Belang sind? Hat er eine Verantwortung auch für Sprache, Kunst und religiöse Traditionen der Bevölkerung, die seiner Souveränität untersteht? Oder ist dies in Zeiten der Glaubens- und Überzeugungsfreiheit der Bürger sowie der Pluralität der Religionen und Weltanschauungen obsolet? Sind Werte und wertvolle Lebensweisen nicht Privat-, Gewissens- oder Geschmacksache, solange das davon geleitete Verhalten andere nicht in ihren Rechten beeinträchtigt?

Man hat in Deutschland die Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus als bloße Wiederaufnahme der Kontroverse zwischen Kantianern und Hegelianern relativiert. Das ist gewiß überzogen: Die Staaten und Gesellschaften, mit denen es Kant und Hegel zu tun hatten, waren von den Verhältnissen, um die sich die gegenwärtige Debatte dreht, weit entfernt. Es handelte sich um religiös und sprachlich homogene Monarchien mit ersten Ansätzen zu Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Marktökonomie.

Auf der anderen Seite konstatieren moderne Soziologen und Gesellschaftstheoretiker wie Luhmann, daß die gesamte Begrifflichkeit der „´bürgerlichen` Ideen und Theorien, die zwischen 1760 und 1820 formuliert" wurden, den modernen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaften nicht mehr gerecht werde.  Die Begriffe des Subjekts, der Individualität, der Freiheit und der Autonomie, wie sie in den Philosophien und politischen Programmen dieser Zeit entwickelt wurden, stellen nach Luhmann einen historisch überholten Versuch dar, die Anfänge der modernen Gesellschaft in der Auflösung der hierarchisch strukturierten Standesgesellschaften zu erfassen und normativ zu idealisieren.

Beide Positionen, die der Vorwegnahme und die der bereits begrifflich irreversiblen Vergangenheit erscheinen mir unhaltbar. Unter bestimmten Aspekten ist die praktische Philosophie Kants oder Hegels von großer Aktualität. Aber sie enthält keine Antworten, die man heute übernehmen könnte.

Die Aktualität der politischen Philosophie Hegels, die er selber als Rechtsphilosophie und als eine Philosophie des objektiven Geistes konzipiert hat, soll hier hinsichtlich des Verhältnisses von individueller Selbstverwirklichung, Intersubjektivität und politischer Existenz untersucht werden.

Im ersten Teil geht es um die Entwicklung des Selbstbewußtseins und ihre Bedeutung für die Selbstverwirklichung (I), im zweiten um intersubjektive Anerkennung als Bedingung von Selbstverwirklichung (II), im dritten um die Bedeutung der politischen Existenz für die Selbstverwirklichung (III). Dabei suche ich jeweils die Nähe und Ferne der Konzeption Hegels zum gegenwärtigen Verständnis von Selbstverwirklichung zu verdeutlichen.

I

Die Vorgeschichte der modernen Ideen von Selbstverwirklichung, Authentizität und benachbarter Begriffe und Werte ist gut erforscht. Charles Taylor, Richard Rorty und andere führen sie vor allem auf die Romantik und das Künstlerideal seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zurück.  Diese Ursprünge mögen in der heutigen alltäglichen und politischen Forderung nach Selbstverwirklichung wirksam sein. Da es mir hier aber nicht um Ideengeschichte oder die Ambivalenzen des Projekts der Moderne zu tun ist,  gehe ich im Folgenden von einem weniger anspruchsvollen und weniger historisch „belasteten" Begriff von Selbstverwirklichung aus.

Die gewöhnliche Bedeutung von Selbstverwirklichung im modernen Sprachgebrauch ist etwa die folgende: Ein Individuum findet heraus, woran ihm besonders gelegen ist, was ihm das Leben lebenswert macht, was für ein Mensch sie oder er sein möchte, welche Fähigkeiten er hat, welche Tätigkeit, welcher Genuß und welche „Bezugspersonen" sein Leben erfüllen könnten. In vielen Fällen entdeckt die Person diese Lebensinhalte und -pläne in Spannung zu den Rollen, die sie in ihrer Sozialisation übernommen hat.

Der Übergang von der angenommen Rolle zu der ihr selber einleuchtenden kann in Graden von der eher konfliktfreien Transformation bis zum Bruch mit den Konventionen und bisherigen sozialen Beziehungen stattfinden. Daß der Selbstverwirklichung bisherige Rollen, Aufgaben und Partnerschaften zum Opfer fallen, kann natürlich auch eine neue Form des Selbstmißverständnisses sein. So wird es schließlich fraglich, ob Selbstverwirklichung abschließbar ist, ja ob die Differenz zwischen dem authentischen Selbst und der konventionellen Rolle überhaupt eine stabile ist.

Was bei diesem Verständnis im Vergleich mit der philosophischen Tradition, der auch Hegel zumindest teilweise verpflichtet ist, auffällt, ist der fehlende Bezug darauf, was der Mensch ist. Diesen Maßstab musste jeder, wenn auch in indivduellen „Abschattungen", seinem Handeln zugrunde legen,  um –  in der aristotelischen Tradition – ein erfülltes Leben zu führen oder sich – nach der stoischen und kantischen Tradition – moralisch zu vervollkommnen.

Aristotelisch gesprochen hat der Mensch, wie jedes andere Lebewesen, eine bestimmte Funktion und spezielle Leistungsfähigkeit, deren kompetente Ausführung ihn glücklich macht. Dazu gehört, daß er nach Wissen und Selbsterkenntnis strebt, gut handeln will, sich mit anderen über gerecht und ungerecht einigen, körperlich gesund sein sowie Ansehen und Güter erwerben will. Zwischen diesen Fähigkeiten, Bedürfnissen und natürlichen Strebungen besteht eine  Hierarchie – ich habe sie in etwa absteigend nachgeahmt –, die eine Güter- und Zielordnung für das individuelle Leben impliziert.

Hegels Idee von Selbstverwirklichung bleibt insoweit in dieser Tradition, als er dem Menschen bestimmte Wesenseigenschaften zuerkennt, an denen der einzelne bei seiner Selbst- und Glückssuche nicht ohne Strafe des Scheiterns vorbeigehen kann. Aber Hegel ist von der neuzeitlichen Kritik an einer objektiven Güterhierarchie, von Hobbes bis Kant, doch soweit erschüttert, daß er ein erheblich dynamischeres und holistischeres Konzept des menschlichen Wesens und damit des Maßes seiner Selbstverwirklichung entwickelt. Das soll hier nicht von seiner Transformation der Begriffe „Wesen" und „Mensch" her dargestellt werden, sondern im Ausgang von der Grundthese, daß der Mensch ein geistiges Wesen ist –   vor allem von der Entfaltung dieser These in der Philosophie des objektiven Geistes her.

Hegel hat für die Struktur dessen, was „Geist" ist, verschiedene Kurzformeln angegeben. Die kürzeste, in der Vorrede der Phänomenologie des Geistes lautet, der Geist sei das in „seinem Außersichsein in sich selbst sich Bleibende“.  Man tut aber gut daran, diese Formeln zu erläutern im Blick auf die Inhalte der Hegelschen Geistphilosophie. Dann sieht man, daß geistige Prozesse erstens charakterisiert sind durch ein zu sich Kommen oder seiner selbst bewußt Werden aus einer unreflektierten Vorstufe, die Hegel oft „Anderssein” oder „außer sich sein" nennt. Für Menschen bzw. geistig-natürliche Individuen ist das ein Vorgang der Selbstfindung, der mit der ersten Stufe der Selbstverwirklichung im heutigen Verständnis Vieles gemeinsam hat. Dazu bedarf es, wie Hegel im Abschnitt „Anthropologie" der Enzyklopädie zeigt, zunächst einmal eines Prozesses der Vergeistigung des menschlichen Körpers.

Die Entwicklungs- und Lernprozesse des Kindheits- und Jugendalters, vom routinierten Gebrauch der Wahrnehmungs- und Mitteilungswerkzeuge über den aufrechten Gang bis zur Ausbildung eines leistungsfähigen Gedächtnisses sowie kognitiver und voluntativer Kompetenzen – einschließlich der Beherrschung von Begierden und Affekten – , werden von Hegel verstanden als Selbstaneignung eines „an sich" geistigen, zur Selbstbestimmung und Selbstreflexion gleichsam angelegten Körpers. Schon auf dieser Stufe des Prozesses zeigt sich im übrigen ein zweites wesentliches Strukturmoment des Geistes, die Reflexion und Manifestation eines Ganzen in seinen Teilen. Ein solches Ganzes ist hier der beseelte menschliche Körper, der sich in seinen Gliedern artikuliert, sie durch Selbstwahrnehmung und gesteuerte Bewegung aneignet und sich in solchen Bewegungen, z. B. Gesten oder dem Ausdruck von Emotionen, als ganzer im besonderen Teil manifestiert.

Die Ganzheiten, die sich in der individuellen Entwicklung manifestieren, gehen für Hegel sogar über das Individuum hinaus. Im Erlernen von Körperbewegungen, Gesten und sprachlichen Mitteilungen, werden überindividuelle kulturelle Muster sichtbar – etwa die Gestik und der Gefühlsausdruck des Italieners oder Chinesen. Sie hängen ihrerseits mit klimatischen, rassischen und geographischen Determinanten zusammen. Aber nicht jede dieser Ganzheiten kann sich selber als eine geistige konstituieren und artikulieren, die zur Selbstabgrenzung und zu kollektiven Formen des Selbstbewußtseins fähig ist. Ein Volk kann das, eine Rasse dagegen nicht.

Die Vergeistigung des menschlichen Körpers ist zugleich, wenn auch phasenverschoben, eine Entwicklung von Bewußtsein und Selbstbewußtsein. Dabei bildet sich eine dreifache Distanz heraus: die zum eigenen Körper, zur wahrgenommen Umgebung der Gegenstände und zu den anderen Menschen, mit denen zunächst eine symbiotische und emotionale Gemeinsamkeit bestand.

In diesen sozialen Prozessen der Distanzierung und der Herausbildung von Formen bewußter Gemeinsamkeit, zeigt sich neben den beiden erwähnten Strukturmomenten der Rückkehr aus dem Anderssein und der Selbstartikulation eines Ganzen ein drittes, für den Geist wesentliches: Die Struktur der Selbstvergegenständlichung, die ihrerseits Stufen des „Sichanderswerdens" bis zur Selbstentfremdung und zum Selbstverlust enthält. Gefühle, Meinungen, Absichten werden durch ihre Äußerung und Verwirklichung im Medium von Körperlichkeit, Sprache, Handlung in einer Weise transformiert, durch die es immer auch zu Verfälschungs- und Verlusterfahrungen kommt.

Gegen diesen Verlust seiner Intentionen wehrt sich das Individuum durch Versuche der Zurücknahme oder der Korrektur bis hin zur Zerstörung – und das gilt nach Hegel für alle materiellen, sozialen und kulturellen Gebilde, an denen der Einzelne durch seine Taten teils bewußt, teils unbewußt beteiligt ist. Da diese Taten aber zugleich seinen Charakter, sein Selbstbild, seine soziale Identität formen, ist der Vorgang der Bekämpfung von Entfremdung  zugleich einer der Selbstnegation. Hegel hat diese Prozesse vor allem in der Phänomenologie des Geistes  subtil analysiert – in Auseinandersetzung mit Zeitströmungen vor allem des Rousseauismus und der Romantik, aber auch in einer heute sichtbaren Vorwegnahme späterer Formen kultureller und politischer Revolutionen. Auch damit trifft er Momente der modernen Ideen von Selbstverwirklichung durch Bruch mit dem Bestehenden, Konventionellen, Nicht-authentischen.

Aber Hegel war, wie Goethe, der Auffassung, das permanente Jagen nach Authentizität sei ein Mißverständnis der geistigen Natur des Menschen. Sichanderswerden, Selbstentfremdung und ihre Negation müßten vielmehr als notwendige Phasen im Zu-sich -kommen des Geistes verstanden werden, der schließlich die Souveränität erreiche, im scheinbar Geistfremden zu hause zu sein. Das gilt zum einen für die Bildung des Individuums durch Aneignung von traditionellen Kenntnissen und Verhaltensweisen, von sozialen Konventionen, technischem Know-how und rechtlichen Prozeduren.

Es gilt zum anderen auch für seine Mitwirkung an der Selbstartikulation und Selbstreflexion einer Kultur. Als eine solche kann man den Begriff des „Volksgeistes" verstehen, der sich in den unbewußten und bewußten Handlungen der Individuen und Institutionen ausdrückt und zum Gegenstand werden kann – sei es zum Gegenstand der Kodifizierung von Rechten, der Bestimmung des Gemeinwohls oder auch der Wissenschaften, die sich der Auslegung der Gesetze, Institutionen und der Kultur eines Volkes widmen.

Die bewußte Teilhabe an dieser Kultur und das Verständnis der Rolle, die das Individuum darin spielt, ist für Hegel der einzige Weg, zu einer nicht permanent rebellierenden, sondern sich erfüllenden Selbstverwirklichung. Die ständige Rebellion wird nicht wirklich frei – weder von dem was sie negiert, dem entfremdeten Zustand, noch von den Geistern und Kräften, die sie ruft und freisetzt.  Sie kommt nicht zur Selbstverwirklichung in den Gegenständen und Konstellationen ihres Handelns.

Autonome Selbstverwirklichung fordert Vereinigung mit Individuen und Gemeinschaften in einer rechtlich-politischen, sowie ästhetischen, religiösen und wissenschaftlichen Kultur. In deren Rechtsverfassung muss das Individuum „Mitgesetzgeber" sein, aber nicht im Sinne Rousseaus und Kants als direkter bzw. repräsentierter Teilnehmer einer permanenten Erneuerung des Gesellschaftsvertrages durch Rechtsgesetze. Sondern durch eine Form der öffentlichen bzw. politischen Existenz, die mit seinen persönlichen Interessen und seinen gesellschaftlichen Funktionen und Kompetenzen vermittelt ist.

Was das bedeutet und worin es sich von modernen Formen politischen Lebens unterscheidet, ist Thema des dritten Teils (s.u. III). Zuvor geht es mir um die intersubjektiven Verhältnisse, die für eine nicht-entfremdete und nicht in permanenter Selbstsuche befangene Selbstverwirklichung notwendig sind.

II

Hegel hat die intersubjektiven Bedingungen vernünftiger Selbstbildung bekanntlich mit den Termini „Anerkennen" (so in der Formel von der „Bewegung des Anerkennens“) und „Anerkennung” (vor allem im Ausdruck „Kampf um Anerkennung") bezeichnet und systematisiert. Von dieser Konzeption her muss auch sein Verständnis des Verhältnisses von Selbstverwirklichung und politischer Existenz verdeutlicht werden.

Er hat diesen Begriff wohl von Fichte übernommen. Auch den Grundgedanken Fichtes, daß sich ein vernünftiges Selbstbewußtsein nicht ohne wechselseitige rechtliche und moralische Anerkennung zwischen Individuen ausbilden kann, nimmt Hegel auf. Zugleich bezieht er in diesen notwendigen Prozeß der Anerkennung aber die Elemente der Gemeinschaftsbildung gemäß der klassischen und neuzeitlichen politischen Philosophie ein.

Aristoteles´ zwei elementare Symbiosen des Hauses, das Verhältnis von Mann und Frau sowie das zwischen Herr und Knecht, werden ebenso als Momente der Anerkennungsbewegung verstanden wie Hobbes Konzeption des Kampfes um Ehre und Macht als Voraussetzung der Einsicht in die vernünftig-rechtliche Form der Staatsbildung. Gegen Hobbes hält Hegel aber an der aristotelischen These fest, daß die Einführung des Rechtszustandes keine artifizielle Vereinbarung ursprünglich selbständiger, buchstäblich souveräner Individuen ist. Er versteht sie vielmehr als teleologischen Prozeß der Verwirklichung der menschlichen Natur als eines Wesens, das nur in der politischen Gemeinschaft seine Autarkie und seine Erfüllung erreichen kann.

Dieser Prozeß wird bei Hegel wieder entsprechend den Strukturmomenten des Geistes verstanden: der Rückkehr aus dem Anderssein, der Individuierung und dem Selbstverlust, sowie dem zu sich Kommen eines Ganzen in seinen Momenten. Das läßt sich an den Formen der Anerkennung, die Hegel in den Jenaer Schriften einschließlich der Phänomenologie  darstellt, gut erkennen.

In der Berliner Rechtsphilosophie tritt die Konzeption einer Stufenfolge intersubjektiver Bedingungen der Bewußtseinsbildung dann zwar hinter die Entwicklung der Formen des Rechts, der Moral und der Sittlichkeit aus der Freiheitsidee zurück. Vor allem wird die Figur des Kampfes um Anerkennung nur noch den geschichtlichen Vorstufen des Rechtsstaates zugewiesen.  Aber die Verwirklichung der Freiheit des Individuums in Familie, Stand und Staat wird an den entscheidenden Stellen wieder in den Termini der Anerkennung gefaßt.

Eine Schwierigkeit, Hegels Aussagen zu den Prozessen individueller Bewußtseinsbildung und Selbstverwirklichung adäquat zu verdeutlichen, liegt in der Verschränkung verschiedener Prozesse in seiner Geistphilosophie. Die Entwicklung des individuellen Bewußtseins ist nicht nur verbunden mit der Gattungs- bzw. der Kulturgeschichte der Menschheit, sondern auch mit einer philosophischen Genese und Legitimation der Rechte, Sitten, Institutionen und Ämter, die der Gegenstand der klassischen und modernen politischen Philosophie – bzw. neuzeitlich von Ethik, Rechts- und Staatsphilosophie – sind. Präpariert man aus dieser Verschränkung Hegels Aussagen zur Selbstverwirklichung der Individuen heraus, so ergibt sich, vor allem angesichts der Jenaer Texte, folgendes Bild:

Ausgangspunkt der Individualisierung ist die soziale Primärgruppe der Familie, in Hegels Entwicklung zunehmend der Kleinfamilie und nicht mehr des aristotelischen oikos, der noch die Produktion umfaßte. In der Familie kann das Individuum seine körperlichen und emotionalen Bedürfnisse befriedigen und sein Selbstbild nach dem Vorbild und den Erwartungen seiner Umgebung, vor allem der Eltern, entwickeln. Als einzigartig, unverwechsel- und unersetzbar erfährt es sich in der Liebe eines anderen, dessen eigene Individualität seinerseits von ihm anerkannt werden will.

In der Liebe kann das Individuum aber auch seine Konturen verlieren und die des anderen nicht mehr wahrnehmen. Ausgeprägt wird die Individualität erst durch die Bestreitung des Selbstbewußtseins von seiten des Anderen und die Selbstbehauptung dagegen. Aber auch der Kampf und die erzwungene Anerkennung des eigenen Selbstbildes führt nur zu wechselseitiger Abhängigkeit, solange nicht bewußt geworden ist, daß wechselseitig anerkannte Individualisierung ihre Grundlage in einem gemeinsamen bewußten Willen hat. Seine erste Stufe ist der Wille zum Recht.

Träger des gemeinsamen Willens zu den individuellen Rechten kann für Hegel keine bloße Vertragsgemeinschaft sein, sondern ein selbständiger und selbstbewußter Allgemeinwille. In der Selbständigkeit der Entwicklung einer Rechtskultur sowie im Selbstbewußtsein, das sie durch die Entscheidungen und das Wissen der Rechtsprechung und der Rechtswissenschaft gewinnt, zeigt sich eine eigene, die natürlichen Individuen übergreifende geistige Individualität.  Individualisierung im Sinne der Entwicklung des Selbstbewußtseins einzelner Menschen hat daher zum Ziel, sich zu den anderen ins Verhältnis zu setzen und sich über seine Stellung in einem organisierten Gemeinwesen klar zu werden.

Den Prozeß, sich den Sinn dieser objektiven Institutionen anzueignen, und darin die eigene Autonomie zu bewahren, nennt Hegel „Bildung“. Er umfaßt die kantische Revolution der Denkungsart, d.h. die Unterordnung des Selbstinteresses unter die vernünftigen Prinzipien des Rechts sowie der institutionellen Voraussetzungen der arbeitsteiligen Gesellschaft und des handlungsfähigen Staates. Sie hat aber eher die Züge der Sozialisation als der Konversion, der Entäußerung als der moralischen Verinnerlichung. Das Individuum muss darauf verzichten, nach dem „Gesetz seines Herzens” zu handeln und die soziale Wirklichkeit an seinem privaten moralischen Urteil zu messen. Worauf es ankommt, ist die Bewältigung sozialer Aufgaben in Familie, Beruf und Staat.

Moralische Werte sind in den Institutionen und in den kompetenten, gemeinwohlbezogenen Handlungs- und Denkweisen der Berufsstände verwirklicht. Berufliche und soziale Kompetenz, auch hinsichtlich der symbolischen Kommunikation, der Alltags- und Feiertagsrituale, wird von den Standesmitgliedern anerkannt durch die Verleihung von Qualifikationen, durch Ansehen und durch geregelte Unterstützung in Notlagen. Das sind vor allem nach der Berliner Rechtsphilosophie die interaktiven Momente sittlicher Anerkennung in Familie und Gesellschaft.

Man kann nicht bestreiten, daß Hegels Konzeption der Selbstverwirklichung ein gerütteltes Maß an sozialem Konformismus enthält. Gewissenstäter und Sozialrevolutionäre haben die Rationalität einer arbeitsteiligen Gesellschaft und ihrer verschiedenen ausdifferenzierten Systeme in aller Regel nicht begriffen. Sie verstehen auch die historische Logik der Ausbildung des modernen Staates nicht. Statt dessen versuchen sie, ihre privaten Meinungen zu öffentlichen Standards zu machen und üben damit Gesinnungszwänge gegen andere aus. Wechselseitige Anerkennung setzt den Verzicht auf öffentliche Durchsetzung privater moralischer Urteile, auch eines nicht-rechtskonformen Gewissens voraus. Das beinhaltet eine zumindest phasenweise Entfremdung vom eigenen Selbstbild.

Gibt es bei Hegel also keine Entsprechung zum Moment des Ausbrechens aus den sozialen Konventionen, wie es für den modernen Begriff der Selbstverwirklichung so charakteristisch ist? Das wird zweifelhaft, wenn man bedenkt, daß die Figur des Bruches des Einzelnen mit dem Recht und mit den öffentlichen moralischen Urteilen in allen wichtigen Texten zur Geistphilosophie Hegels eine bedeutende Funktion hat. Die antike Tragödie, der christliche Gedanken der Versöhnung mit dem Sünder – und zwar nicht nur durch göttliche Gnade, sondern auch durch das Verständnis der religiösen Gemeinde –  schließlich auch die straf- und staatsrechtlichen Momente von Verbrechen, Strafe und Begnadigung sind für ihn notwendige Momente des Gemeingeistes.

Aber zum einen handelt es sich dabei offenbar nicht um private Vorgänge wie die der Befreiung des Individuums von sozialen Bindungen und Konventionen auf der Suche nach seiner authentischen Lebensweise. Zum anderen gehört der radikale Bruch mit Rechtsgesetzen und Standessitten nicht zur Notwendigkeit jedes individuellen Reifeprozesses. Es genügt offenbar, diese Momente der Selbstisolierung des Verbrechers und der Reintegration durch Strafe oder Vergebung als Momente der Rechtsverwirklichung und damit der Selbstreflexion des allen gemeinsamen Geistes zu begreifen.

Der Gesetzesbruch, auch das Kapitalverbrechen, sind nicht, wie noch bei Fichte, ein Rückfall in den Naturzustand, sondern gehören zum normalen staatlichen Leben. So, wie die Staaten den Gemeingeist der Bürger durch gelegentliche Ausnahmezustände erproben und beleben müssen, so gibt ihnen das Verbrechen die Gelegenheit, die Geltung des Rechts gegen jede Form von Selbstprivilegierung unter Beweis zu stellen. Aber Gesetze können sich auch überleben, hinter dem vernünftigen Zeitgeist zurückbleiben. Dann werden die Übertretungen vom seltenen Ausnahmefall zur Alltäglichkeit und erzwingen damit die Fortbildung des Rechtsbewußtseins und die Novellierung der Gesetze.

Gewiß hat Hegel nicht an das Tempo moderner Gesetzes- und Rechtsreformen gedacht. Wie für Rousseau, so ist auch für ihn die Zahl der Gesetze klein und ihre Veränderungsbedürftigkeit gering. Zugleich kritisiert er aber schon früh die mechanistische Vorstellung des Rechtes als exakt bestimmbarer und lückenlos wirksamer „zweiter Natur" bei Kant, Fichte und dem frühen Schelling.

Zwar muss das Recht zur gesinnungsunabhängigen sozialen Realität werden. Dafür muss es Kodifikationen, stabile Verfahren und gewohnheitsmäßige Rechtsgesinnung geben. Aber alle mechanischen Formen des individuellen und des Gemeingeistes müssen vor Verknöcherung, und dadurch, wie Hegel in enger Anlehnung an naturphilosophische Gedanken feststellt, vor dem geistigen Tode bewahrt werden.  Dann aber ist die Fortbildung des Rechtes durch Abweichungen und die Belebung sozialer Konventionen durch individuelle Interpretationen eine Notwendigkeit für den lebendigen Geist der Sitten und Institutionen.

Nach dieser, in Hegels Texten allerdings nicht sehr expliziten, Konzeption würde Selbstverwirklichung in sozialen Rollen erfordern, diesen Rollen und Funktionen den eigenen Stempel aufzudrücken, sie – analog zur Inszenierung von Kunstwerken – nach der eigenen Einsicht in das Notwendige und Zeitgemäße, auf persönliche, in Maßen auch innovatorische Weise zu „inszenieren".

Natürlich ist der Spielraum der persönlichen Auslegung eines Rechtes wesentlich enger als der einer Inszenierung von Kunstwerken, vor allem wenn man nicht ein durch wissenschaftliche Kompetenz, persönliche Erfahrung und öffentliche Zustimmung ausgewiesener Richter ist. Aber es kann auch in der Hegelschen Konzeption beträchtliche graduelle Unterschiede hinsichtlich dieses Interpretationsspielraumes geben – von den strikten Regeln des kodifizierten Rechts bis zu den familiären Umgangsweisen, den ständischen Zeremoniellen oder den Pflichten politischer Ämter.

Wenn Selbstverwirklichung bei Hegel wesentlich rigider als heute an die Erfüllung sozialer Aufgaben und die Ausfüllung sozialer Rollen gebunden ist, so hat das einen doppelten Grund: Zum einen, die oben erwähnte Vorstellung, daß Menschen als geistige Wesen zwar graduell abweichende, aber im Wesentlichen gleiche Prozesse der Selbstaneignung, der Individualisierung und der Integration in Gemeinschaften durchlaufen müssen. Dabei wird ihr Selbstbildnis substanzlos und unfrei, wenn es sich nur aus der Distanz zu den öffentlichen Sitten, der Befreiung von Erwartungen und der Suche nach Einmaligkeit konstituiert. Es wird aber andererseits auch geistlos und dumpf, wenn es sich bloß in angepaßter, rigider Pflichterfüllung und Konventionalität erschöpft. Nur die persönliche Deutung und Lösung gemeinsamer und institutioneller  Aufgaben sichert bleibende Selbsterfüllung.

Der zweite Grund für Hegels Skepsis gegen Selbstverwirklichung durch Nonkonformismus liegt in der Bedeutung der Anerkennung für das Selbstbewußtsein. Unser Wissen von uns als selbständigen und selbstbestimmten Individuen setzt nicht nur die Bestätigung und die Bestreitung, die Liebe und die Auseinandersetzung mit anderen, ebenso intersubjektiv „empfindlichen" Wesen voraus. Es bedarf auch der Verständlichkeit und der möglichen Integrierbarkeit in ein gemeinsames Bewußtsein von dem, was gesellschaftlich notwendige und anerkennenswerte Aufgaben, Rollen und Leistungen sind.

Ein Geistwesen ist immer Teil eines gemeinsamen Bewußtseins und seiner Entwicklungsprozesse. Es kann seine Erfüllung nicht durch Flucht ins gänzlich Private finden, also in eine Authentizität, die nicht in berechtigte soziale Erwartungen integrierbar ist.

Aber müssen soziale Lebensweisen auch politische sein? muss der Mensch wirklich, um kein beschränkter Privat- oder Fach- “idiot” zu sein, ein „öffentliches Leben führen" und an den Funktionen des politischen Staates teilnehmen? Was macht eine politische Existenz im Sinne Hegels überhaupt aus? Diesen Fragen will ich mich im Schlußteil meiner Ausführungen zuwenden.

III

Die Selbstverwirklichung des Individuums als eines geistigen Wesens kann nach Hegel nicht allein in privater Tätigkeit oder privatem Genuß gelingen. In § 207 der Grundlinien der Philosophie des Rechts heißt es:

„Das Individuum gibt sich nur Wirklichkeit, indem es in das Dasein überhaupt, somit in die bestimmte Besonderheit tritt, hiermit ausschließend sich auf eine der besonderen Sphären des Bedürfnisses beschränkt. Die sittliche Gesinnung in diesem Systeme ist daher die Rechtschaffenheit und die Standesehre, sich, und zwar aus eigener Bestimmung durch seine Tätigkeit, Fleiß und Geschicklichkeit zum Gliede eines der Momente der bürgerlichen Gesellschaft zu machen und als solches zu erhalten und nur durch diese Vermittlung des Allgemeinen für sich zu sorgen sowie dadurch in seiner Vorstellung und der Vorstellung anderer anerkannt zu sein."

Die Selbstverwirklichung setzt also einerseits die eigene Bestimmung, d.h. die Wahl des Standes voraus, wie Hegel in scharfer Absetzung von der Fremdbestimmung hervorhebt – sei es durch „Regenten" wie in Sparta und in der platonischen Politeia, oder durch Geburt, und religiöse Autorität wie im indischen Kastensystem.  Die Zulassung zu einem Stand kann nur an Qualifikationsprüfungen und an die Wahrung des Standesethos gebunden sein. In der persönlichen Wahl eines Berufes liegt also das entscheidende Moment der „Besonderung" innerhalb der Gesellschaft.

Dazu kommt die Erfüllung eigener Wünsche durch Eigentumserwerb und Austausch auf dem Markt. Dies alles ist aber vermittelt durch das „Allgemeine" der Rechtsvorschriften, der ökonomischen Gesetzmäßigkeiten und der Kenntnis- und Verhaltensvorschriften des Berufsstandes.

Für Hegel sind die Berufe und ihre Zuordnung zum Agrar-, Gewerbe- und Beamtenstand nicht nur für die Erhaltung der gesellschaftlichen Bedürfnisse notwendig, sondern sie entsprechen auch der begrifflichen Struktur und der ihr folgenden Entwicklung des Geistes. Ihre Notwendigkeit ist in den Begriffsmomenten der Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit enthalten. Indem das Individuum seinen Unterhalt durch einen im doppelten Sinne gesellschaftlich notwendigen Beruf verdient, ist es anerkannt, d.h. vom gemeinsamen Bewußtsein aller getragen. Erst dadurch realisiert es seine geistige Natur. Denn das Wesen des Geistes war ja nicht nur, sich auf dem Hintergrund eines gemeinsamen Bewußtseins seiner Besonderheit bewußt zu werden, sondern auch, als ein Ganzes sich in seinen gedanklich notwendigen Momenten zu manifestieren und zu reflektieren.

Aber selbst in dieser sozialen Auffassung von Selbsterhaltung und Selbstverwirklichung ist die Bestimmung des Menschen, die wahre Natur eines geistigen Wesens, noch nicht erschöpft. Die berühmt-berüchtigten Formulierungen Hegels in den §§ 257-260 lassen daran keinen Zweifel. So heißt es in § 260:

„Der Staat ist die Wirklichkeit der konkreten Freiheit; die konkrete Freiheit aber besteht darin, daß die persönliche Einzelheit und deren besondere Interessen sowohl ihre vollständige Entwicklung und die Anerkennung ihres Rechts für sich (im Systeme der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft) haben, als sie durch sich selbst in das Interesse des Allgemeinen teils übergehen, teils mit Wissen und Willen dasselbe und zwar als ihren eigenen substantiellen Geist anerkennen und für dasselbe als ihren Endzweck tätig sind, so daß weder das Allgemeine ohne das besondere Interesse, Wissen und Wollen vollbracht werde, noch daß die Individuen bloß für das letztere als Privatpersonen leben und nicht zugleich in und für das Allgemeine wollen und eine dieses Zwecks bewußte Wirksamkeit haben."

Der Staat muss nach Hegel eine doppelte Funktion erfüllen: Er muss einerseits die Ausdifferenzierung der Sphären von Familie und Gesellschaft, sowie innerhalb der Gesellschaft die der Berufsstände, ermöglichen und garantieren. Dafür ist nicht nur der Rechtsschutz sondern auch eine ganze Reihe von interventionistischen Maßnahmen nötig, in denen Hegel den modernen Sozialstaat beträchtlich antizipiert.

Zum anderen muss der Staat dem einzelnen aber auch einen letzten Zweck des Handelns zur Verfügung stellen, nämlich die vernünftige Verfassung des Gemeinwesens zu erhalten, und an der Fortbildung der Rechtskultur und der übrigen kulturellen Sphären mitzuwirken. Das geistige Lebewesen ist notwendig ein politisches, so wie die Vernunft des aristotelischen zoon logon echon die politische war. Durch sie wird in öffentlicher Rede und Entscheidung gemeinsam festgelegt, was für alle gerecht und ungerecht, nützlich und schädlich ist.

In diesem Staat muss das Recht der Individuen anerkannt sein, ihre persönlichen Interessen in den selbständigen Sphären der Familie und der Gesellschaft, mit ihren Marktprozessen und ihren selbstorganisierten Berufen, zu verfolgen. Daß diese mit den Interessen der anderen verbunden sind, aber auch mit allgemeinen Gesetzen, sei es unbewußter Natur wie die ökonomischen, sei es expliziter Normen wie die Rechtsgesetze, läßt das Individuum unbewußt in den  allgemeinen Willen „übergehen".

Aber es muss seiner Funktion für den Staat und seines Anteils an der Bildung des allgemeinen Willens auch bewußt werden und sie bejahen. Ohne dies, etwa in einem Staat der Eliten und Experten, würde der allgemeine Geist selber tot sein. Es ist das Prinzip des modernen Staates, daß in ihm die notwendige Verbindung von individueller Persönlichkeitsentwicklung und Mitwirkung an den staatlichen Aufgaben bewußt und von den Individuen gewollt ist. Nur in diesem Bewußtsein gewinnen die Individuen „Substanz" und das Gemeinwesen Lebendigkeit.

Diese Grundthese gilt, auch wenn Hegel die politische Beteiligung in deutlich vor-demokratischer Weise konzipiert.  Volkssouveränität, allgemeines Wahlrecht, Primat der Legislative u.ä. machen nach Hegel den Staat zum Spielball privater Interessen und zufälliger Mehrheiten: das „Wählen .. reduziert sich auf ein geringes Spiel der Meinung und der Willkür" (§ 311). Die Abgeordneten haben vielmehr die Lücken in der Kompetenz der fürstlichen Beamtenregierung, die auf Wissenschaft beruht, durch ihre Detailkenntnisse zu ergänzen.

„Es bietet sich von selbst das Interesse dar, daß unter den Abgeordneten sich für jeden besonderen großen Zweig der Gesellschaft, z.B. für den Handel, für die Fabriken usf. Individuen finden, die ihn gründlich kennen und ihm selbst angehören .. Wenn die Abgeordneten als Repräsentanten betrachtet werden, so hat dies einen organisch vernünftigen Sinn nur dann, daß (sic) sie nicht Repräsentanten als von Einzelnen, von einer Menge seien, sondern Repräsentanten einer der wesentlichen Sphären der Gesellschaft, Repräsentanten ihrer großen Interessen." (ebd)

Wenn dies auch sicher zu vormodern korporatistischen Staatskonzeptionen gehört, so wird man doch zugestehen müssen, daß auch in modernen Parlamentsfraktionen die einflußreichsten gesellschaftlichen Gruppen repräsentiert sind und überdies schon in die Gesetzesvorschläge die Kompetenz und die Interessen von Verbandsvertretern eingehen. Insofern enthält auch die moderne Demokratie korporatistische Elemente.

Das bewußte Teilnehmen am allgemeinen Willen ist bei Hegel nicht die demokratische Wahl und noch weniger die Teilnahme an der Konzeption einer mehrheitsfähigen Politik in politischen Parteien. Es ist vermittelt über berufsständische Beteiligung an der Gesetzgebung – jedenfalls sofern es nicht direkt auf Staatsaufgaben bezogen ist, wie beim Stand der Allgemeinheit, dem wissenschaftlich gebildeten Beamtentum.

Aber ohne das Bewußtsein und die Absicht, auf wie immer vermittelte Art am Gemeinwohl mitzuwirken, kann sich die geistige Existenz des Individuums nicht verwirklichen. Ohne die bewußte Vereinigung zu einem selbstbestimmten und handlungsfähigen Gemeinwesen, das auf vernünftigen Rechtsprinzipien beruht, unterschreitet das Individuum sein Potential als vernünftiges Lebewesen. Dieses Defizit ist bei Hegel, nicht anders als der Verzicht auf Autonomie bei Rousseau oder Kant, ein Verstoß gegen die Pflicht, ein vollständiger Mensch zu sein.

Hegels These zum anfangs erwähnten Streit über die negative oder positive Aufgabe des Staates für die individuelle Selbstverwirklichung ist eindeutig: Der Staat hat nicht nur günstige Bedingungen für private Selbstfindungs- und Verwirklichungsprozesse bereitzustellen. Er muss den Individuen vielmehr die Beteiligung an einem öffentlichen Leben ermöglichen,  in dem die Rechtsordnung und die Kultur, nicht nur die politische, sondern auch die wissenschaftliche, ästhetische und religiöse, weiterentwickelt wird.  Er muss lohnende Gemeinschaftsaufgaben bereitstellen und die Kompetenz der Individuen zu ihrer Erfüllung fördern.

Diese politische Existenz ist freilich vorbereitet und vermittelt durch eine soziale, in der das Individuum seine eigene Besonderheit nur so entwickeln kann, daß es zugleich soziale – seien es familiäre oder berufsständische – Pflichten erfüllt und dafür Anerkennung erhält. Eines der Probleme der Aktualisierung dieses Modells liegt darin, daß in einer technologischen Gesellschaft, die menschliche Arbeit zunehmend erübrigt oder in Bereiche der Freizeit- und Unterhaltungsindustrie verlagert, gesellschaftlich notwendige Berufe und Berufsstände immer seltener werden.  Die Produktion von Gütern und das Angebot von Dienstleistungen sowie ihre Verteilung über den Markt wird eine Beziehung „von privat zu privat“. Ihre Anerkennung besteht fast nur noch in monetären Vergütungen oder anderen privaten „Gratifikationen.”

Hinzu kommen andere Prozesse, die Hegels Konzeption der Vermittlung von besonderen Interessen und Gemeinschaftsaufgaben sozusagen an den Gelenkstellen treffen: Die Ersetzung der Familie durch temporäre Lebensgemeinschaften oder die Entstehung überstaatlicher Organisationen im Bereich der Wirtschaft, des Rechts, der Verwaltung oder der Kultur. „Corporate Identity" und die Anerkennung durch Beiträge zum staatlichen Gemeinwohl können auseinander treten. Öffentliche Aufgaben können auch direkt auf die internationale Gemeinschaft oder Menschen in anderen Weltregionen bezogen sein.

Einige dieser Veränderungen könnten durch hermeneutisch legitime Aktualisierungen von Hegels Thesen sozusagen entschärft werden. So sind etwa Hegels Aussagen über die Solidarität innerhalb der Familie und ihren überrechtlichen Verpflichtungscharakter sicher auch auf andere Lebensgemeinschaften anwendbar – wenn man einmal von Hegels Geschlechtermetaphysik absieht.   Es bleiben aber Grenzen, die eine zu weitgehende Aktualisierung Hegels ausschließen, vor allem hinsichtlich des absoluten Primats der Einzelstaaten, die mit einer relativ homogenen Kultur verknüpft sind.

Bedenkenswert scheint mir gleichwohl die These, daß der Prozeß der Individualisierung, Bewußtwerdung und Selbstverwirklichung nicht gelingt, wenn er nur an den Zielen der individuellen Selbstfindung, der Erfindung eines Lebensplanes und seiner Realisierung orientiert ist.

Von aktueller Bedeutung scheinen mir auch Hegels Thesen, daß die Entstehung von individuellem Selbstbewußtsein schon auf dem Hintergrund gemeinsamer Konventionen und Werte erfolgt; ferner daß sie von der unterstützenden und kontrastierenden Anerkennung anderer abhängt, die letztlich nur dann vernünftig und verläßlich ist, wenn sie sich auf Beiträge zur Lösung gemeinsamer Aufgaben bezieht. Man darf und muss das Netz sozialer Erwartungen dann zerreißen, wenn es einen wirklich zur dauerhaften Selbstentfremdung zwingt. Aber die Freiheit sozialer Ungebundenheit bleibt ein illusionäres Ziel. Man wird das aufgegebene Netz durch ein neues ersetzen müssen. Selbstverwirklichung bleibt auf die Anerkennung bei der Erfüllung gemeinsamer Aufgaben angewiesen.

Wenn Menschen auf diese Weise von sozialer Anerkennung und Verständigung über das Wichtige und Unwichtige, Notwendige und Überflüssige, Gerechte und Ungerechte abhängen, dann ist es fraglich, ob sich die Ordnung und die Leitung eines Gemeinwesens beschränken kann auf den Schutz der individuellen Interessen und die rechtsstaatliche Lösung von Interessenkonflikten. Die Ermöglichung der Beteiligung an sinnvollen Gemeinschaftsaufgaben ist ein mindestens ebenso wichtiges politisches Ziel. Über diese Aufgaben und über die Güter und Werte, die ihnen zugrunde liegen, muss ein öffentlicher Dialog stattfinden. Es geht nicht nur darum, auf wie viel Prozent man den Anteil der Staatsausgaben senkt.

Wie schon erwähnt, sind Güter und Werte heute weitgehend inkorporiert und konkretisiert in sozialen und politischen Institutionen.   Gesundheit etwa ist ein anerkannter Wert, den zu realisieren wir ein riesiges, teils privates, teils öffentliches Gesundheitssystem unterhalten. Aber über das, was Gesundheit ist, was dazu gehört, und welcher menschliche Körper Gegenstand unserer Gesundheitsdienste ist, der „ererbte" oder der technisch in Zukunft mögliche, muss eine permanente öffentliche Diskussion stattfinden.

Das Gleiche gilt für die Güter der Sicherheit, der Mobilität, der Bildung und auch derjenigen Aufgaben und Ziele der Wissenschaft, die durch Belastungen aller Bürger zu finanzieren sind. Ob die Entlastung des Staates von mehr und mehr dieser Gemeinschaftsaufgaben noch vereinbar ist mit der gleichen Beteiligung aller an der Festlegung und Realisierung öffentlicher Güter, ist ein wichtiges Thema politischer Philosophie heute.

Wenn die politische Existenz zur Selbstverwirklichung von vernünftigen oder geistigen Wesen gehört, dann kann Politik nicht den Experten überlassen werden – auch nicht der Konkurrenz und Kooperation der Systeme von Politik und Wirtschaft, wie es, vergröbert gesagt, der systemtheoretischen Diagnose etwa Luhmanns entspräche.  Ebensowenig können sich die Ziele der Politik darauf beschränken, die materiellen Mittel und institutionellen Bedingungen privater Interessenverfolgung  zu optimieren. Ohnehin werden dabei, wie die Folgen von Energie-, Verkehrs- oder Kommunikationspolitik zeigen, kollektive und individuelle Verhaltensweisen und Lebensformen tiefgreifend verändert.

Dasselbe wird sich noch radikaler in den Bereichen der Gesundheits-, Wissenschafts- und Technologiepolitik erweisen. Es geht um Wertentscheidungen und nicht nur um Förderung eines Wirtschaftsstandorts. Und daran müssen politische Lebewesen in irgendeiner Art beteiligt sein. Sonst verkommt die Selbstverwirklichung zum belanglos ästhetischen Spiel im Schatten der Mächtigen.

Erstveröffentlichung in:

Gerechtigkeit und Politik. Philosophische Perspektiven. Akademie-Verlag, Berlin 2002. Herausgeber: R. Schmücker, U. Steinvorth