Pflichtenlehre
§39
.. Die
Besonderheit des Menschen
besteht im
Verhältniszu anderen.
In diesem Verhältnis sind nun auch
wesentliche und notwendigeBestimmungen
.
Diese machen den
Inhalt der
Pflicht
aus.
§ 40
Der Mensch hat
1. die wesentliche Bestimmung, ein
Einzelner
zu sein,2. gehört er einem natürlichen Ganzen, der
Familie
an,
3. ist er Glied des
Staates,
4. steht er in Verhältnis
zu anderen Menschen überhaupt.
- Die
Pflichten
teilen sich daher in vier Gattungen:
1. in Pflichten gegen
sich,
2. gegen die
Familie,
>>
)
4. gegen
andere Menschen überhaupt.
>>
1. PFLICHTEN GEGEN SICH
§ 41
Der Mensch als Individuum verhält sich zu sich selbst.
Er hat die gedoppelte Seite seiner Einzelheit und seines allgemeinen Wesens.
Seine Pflicht gegen sich ist insofern
teils seine
physische Erhaltung,
teils, sein Einzelwesen zu seiner allgemeinen Natur zu erheben,
sichzu bilden.
Erläuterung.
Der Mensch ist einerseits ein
natürliches Wesen.
Als solches verhält er sich nach Willkür und Zufall,
als ein unstetes, subjektives Wesen.
Er unterscheidet das Wesentliche nicht vom Unwesentlichen.
- Zweitens ist er ein geistiges,
vernünftiges Wesen.
Nach dieser Seite ist er nicht von Natur, was er sein soll.
Das Tier bedarf keiner
Bildung,
denn es ist von Natur, was es sein soll.
Es ist nur ein natürliches Wesen.
Der Mensch aber muss seine gedoppelte Seite in Übereinstimmung bringen,
seine Einzelheit seiner vernünftigen Seite gemäß zu machen
oder die letztere zur herrschenden zu machen.
Es ist z. B.
ungebildet,
wenn der Mensch sich
seinemZorne überläßt
und blind nach diesem Affekt handelt,
weil er darin eine Beleidigung oder Verletzung
für eine unendliche Verletzung ansieht
und sie durch eine Verletzung des Beleidigers oder anderer Gegenstände
ohne Maß und Ziel auszugleichen sucht.
- Es ist
ungebildet,
wenn einer ein
Interesse behauptet,
das ihn nichts angeht
oder wo er durch seine Tätigkeit nichts bewirken kann,
weil man verständigerweise nur das zu seinem Interesse machen kann,
wo man durch seine Tätigkeit etwas zustande bringt.
- Ferner wenn der Mensch bei Begegnissen des Schicksals
ungeduldig
wird,
so macht er sein besonderes Interesse zu einer höchst wichtigen Angelegenheit,
als etwas, wonach sich die Menschen und die Umstände
hätten richten sollen.
§ 42
Zur
theoretischen Bildung
gehört
außer der Mannigfaltigkeit und Bestimmtheit der Kenntnisse
und der Allgemeinheit der Gesichtspunkte,
aus denen die Dinge zu beurteilen sind,
der Sinn für die Objekte in ihrer freien Selbständigkeit,
ohne ein subjektives Interesse.
Erläuterung.
Die Mannigfaltigkeit der
Kenntnisse
an und für sich gehört zur Bildung,
weil der Mensch dadurch aus dem partikulären Wissen
von unbedeutenden Dingen der Umgebung
zu einem allgemeinen Wissen sich erhebt,
durch welches er eine größere Gemeinschaftlichkeit der Kenntnisse
mit anderen Menschen erreicht,
in den Besitz allgemein interessanter Gegenstände kommt.
Indem der Mensch über das, was er unmittelbar weiß und erfährt, hinausgeht,
so lernt er,
daß es auch andere und
bessere Weisen des Verhaltens und Tuns
gibt
und die seinige nicht die einzig notwendige ist.
Er entfernt sich von sich selbst
und kommt zur
Unterscheidung des Wesentlichen und Unwesentlichen.
- Die
Bestimmtheit
der Kenntnisse
betrifft den wesentlichen Unterschied derselben,
die Unterschiede, die den Gegenständen unter allen Umständen zukommen.
Zur Bildung gehört ein
Urteil
über die Verhältnisse und Gegenstände der Wirklichkeit.
Dazu ist erforderlich, daß man wisse, worauf es ankommt,
was die Natur und der Zweck einer Sache
und der Verhältnisse zueinander sind.
Diese Gesichtspunkte sind nicht unmittelbar durch die Anschauung gegeben,
sondern durch die
Beschäftigung mit der Sache,
durch das
Nachdenken
über ihren Zweck und Wesen
und über die Mittel, wie weit dieselben reichen oder nicht.
Der
ungebildete
Mensch bleibt bei der unmittelbaren
Anschauung
stehen.
Er hat kein offenes Auge und sieht nicht, was ihm vor den Füßen liegt.
Es ist nur ein subjektives Sehen und Auffassen.
Er sieht nicht die Sache.
Er weiß nur ungefähr, wie diese beschaffen ist, und das nicht einmal recht,
weil nur die Kenntnis der
allgemeinen Gesichtspunkte
dahin leitet,
was man wesentlich betrachten muss,
oder weil sie schon das Hauptsächliche der Sache selbst ist,
schon die vorzüglichsten Fächer derselben enthält,
in die man also das äußerliche Dasein sozusagen nur hineinzulegen braucht
und also sie viel leichter und richtiger aufzufassen fähig ist.
Das Gegenteil davon, daß man nicht zu urteilen weiß, ist,
daß man
vorschnell über alles urteilt, ohne es zu verstehen.
Ein solch vorschnelles Urteil gründet sich darauf,
daß man wohl einen Gesichtspunkt faßt,
aber einen
einseitigen
und dadurch also den wahren Begriff der Sache,
die übrigen Gesichtspunkte übersieht.
Ein gebildeter Menschweiß zugleich die Grenze seiner Urteilsfähigkeit.
Ferner gehört zur Bildung der
Sinn für das Objektive
in seiner Freiheit.
Es liegt darin, daß ich nicht mein besonderes Subjekt
in dem Gegenstande suche,
sondern die Gegenstände, wie sie an und für sich sind,
in ihrer freien Eigentümlichkeit betrachte und behandle,
daß ich mich ohne einen besonderen Nutzen dafür interessiere.
- Ein solch
uneigennütziges Interesse
liegt in dem Studiumder
Wissenschaften,
wenn man sie nämlich um
ihrer selbst willen
kultiviert.
Die
Begierde,
aus den Gegenständen der Natur Nutzen zu ziehen,
ist mit deren
Zerstörung
verbunden. ..
§ 43
Zur
praktischen Bildung
gehört, daß der Mensch
bei der
Befriedigung
der natürlichen Bedürfnisse und Triebe
diejenige Besonnenheit und
Mäßigung beweise,
welche in den Grenzen ihrer Notwendigkeit,
nämlich der Selbsterhaltung liegt.
Er muss
1. aus dem Natürlichen heraus
, davon frei sein;
2.
hingegen
in seinen Beruf,
das Wesentliche, muss er
vertieft
[sein]und daher
3.
die
Befriedigung
des Natürlichen
nicht nur in die Grenzen der Notwendigkeit
einschränken,
sondern sie auch höheren Pflichten
aufzuopfern
fähig sein.
Erläuterung.
Die Freiheit des Menschen von natürlichen Trieben besteht nicht darin,
daß er keine hätte und also seiner Natur nicht zu entfliehen strebt,
sondern daß er sie überhaupt als ein Notwendiges
und damit Vernünftiges anerkennt
und sie demgemäß
mit seinem Willen vollbringt
.
Er findet sich dabei nur insofern
gezwungen,
als er sich zufällige und willkürliche Einfälle und Zwecke
gegen das Allgemeine schafft.
Das bestimmte,
genaue Maß
in Befriedigung der Bedürfnisse
und im Gebrauch der physischen und geistigen Kräfte
läßt sich nicht genau angeben,
aber es kann jeder wissen, was ihm nützlich oder schädlich ist.
Die
Mäßigung
in Befriedigung natürlicher Triebe
und im Gebrauch körperlicher Kräfte
ist überhaupt um der
Gesundheit
willen notwendig,
denn diese ist eine wesentliche Bedingung für den Gebrauch der
geistigen Kräfte
zur Erfüllung der höheren Bestimmung des Menschen.
Wird der Körper nicht in seinem ordentlichen Zustande erhalten,
wird er in einer seiner Funktionen verletzt,
so muss man ihn zum Zweck seiner Beschäftigung machen,
wodurch er etwas Gefährliches, Bedeutendes für den Geist wird.
- Ferner hat die Überschreitung des Maßes
im Gebrauch der physischen und geistigen Kräfte
entweder durch das Zuviel oder Zuwenig
Abstumpfung und Schwäche
derselben zur Folge.
Endlich ist die Mäßigkeit mit der
Besonnenheit
verbunden.
Diese besteht im Bewußtsein über das, was man tut,
daß der Mensch im Genuß oder in der Arbeit
durch seine Reflexion sich überschaut
und also diesem einzelnen Zustande nicht ganz hingegeben ist,
sondern
offen bleibt
für die Betrachtung von anderem,
was auch noch notwendig sein kann.
Bei der Besonnenheit ist man aus seinem Zustande,
der Empfindung oder des Geschäfts, zugleich mit dem Geist heraus.
Diese Stellung, sich in seinen Zustand nicht vollkommen zu vertiefen,
ist überhaupt bei zwar notwendigen,
aber dabei nicht wesentlichen Trieben und Zwecken erforderlich.
Hingegen bei einem
wahrhaften Zweck oder Geschäft
muss der Geist
mit seinem ganzen Ernst gegenwärtig
und nicht zugleich außerhalb desselben sein.
Die Besonnenheit besteht hier darin,
daß man
alle Umstände
und Seiten der Arbeit vor Augen hat.
§ 44
Was
den bestimmten
Beruf
betrifft, der als ein Schicksal erscheint,
so ist überhaupt die Form einer äußerlichen Notwendigkeit daran aufzuheben.
Es ist
mit Freiheit zu ergreifen
und mit solcher auszuhalten und auszuführen.
Erläuterung.
Der Mensch, in Rücksicht auf die äußerlichen Umstände des Schicksals
und alles, was er überhaupt unmittelbar ist,
muss sich so verhalten,
daß er dasselbe
zu dem seinigen macht,
daß er ihm die Form eines äußerlichen Daseins benimmt.
Es kommt nicht darauf an, in welchem äußerlichen Zustande
der Mensch sich durch das Schicksal befindet,
wenn er
das, was er ist, recht ist,
d. h. wenn er alle Seiten seines Berufs ausfüllt.
Der Beruf zu einem Stande ist eine vielseitige Substanz.
Er ist gleichsam ein Stoff oder Material,
das er nach allen Richtungen hin durcharbeiten muss,
damit dasselbe nichts Fremdes, Sprödes und Widerstrebendes in sich hat.
Insofern ich es vollkommen zu dem Meinigen für mich gemacht habe,
bin ich
frei darin.
Der Mensch ist vorzüglich dadurch
unzufrieden,
wenn er seinen
Beruf nicht ausfüllt.
Er gibt sich ein Verhältnis, das er nicht wahrhaft als das seinige hat.
Zugleich gehört er diesem Stande an.
Er kann sich nicht von ihm losmachen.
Er lebt und handelt also in einem
widerwärtigen Verhältnis mit sichselbst.
§ 45
Treue
und Gehorsam in seinem Beruf
sowie
Gehorsam
gegen das Schicksalund
Selbstvergessenheit
in seinem Handeln
haben zum Grunde das
Aufgeben der Eitelkeit, des Eigendünkels
und der Eigensucht gegen das, was an und für sich und notwendig ist.
Erläuterung.
Der Beruf ist etwas Allgemeines und Notwendiges
und macht irgendeine Seite des
menschlichen Zusammenlebens
aus.
Er ist also ein
Teil des ganzen Menschenwerkes.
Wenn der Mensch einen Beruf hat,
tritt er zu dem Anteil und
Mitwirken
an dem Allgemeinen ein.
Er wird dadurch ein
Objektives.
Der Beruf ist zwar eine einzelne, beschränkte Sphäre,
macht jedoch ein
notwendiges Glied des Ganzen
aus
und ist auch in sich selbst wieder ein Ganzes.
Wenn der Mensch etwas werden soll, so
muss er sich zu beschränkenwissen,
d. h. seinen Beruf ganz zu seiner Sache machen.
Dann ist er keine Schranke für ihn.
Er ist alsdann einig mit sich selbst, mit seiner Äußerlichkeit, seiner Sphäre.
Er ist ein
Allgemeines,
Ganzes.
- Wenn der Mensch sich etwas
Eitles,
d. h. Unwesentliches, Nichtiges zum Zweck macht,
so liegt hierbei nicht das Interesse an einer,
sondern an seiner Sache zugrunde.
Das Eitle ist nichts an und für sich Bestehendes,
sondern wird nur durch das Subjekt erhalten.
Der Mensch
sieht darin nur sich selbst;
z. B.
es kann auch eine
moralische Eitelkeit
geben,
wenn der Mensch überhaupt bei seinem Handeln
sich seiner Vortrefflichkeit bewußt
istund das Interesse mehr an sich als an der
Sache
hat.
- Der Mensch, der
geringe Geschäfte treu erfüllt,
zeigt sich
fähig zu größeren,
weil er Gehorsam gezeigt hat,
ein Aufgeben seiner Wünsche, Neigungen und Einbildungen.
§ 46
Durch die intellektuelle und moralische Bildung
erhält der Mensch die
Fähigkeit, die Pflichten gegen andere zuerfüllen,
welche Pflichten
reale
genannt werden können,
dahingegen die Pflichten, die sich auf die Bildung beziehen,
mehr
formeller
Natur sind.
§ 47
Insofern die Erfüllung der Pflichten
mehr als subjektives Eigentum eines Individuums erscheint
und mehr seinem natürlichen Charakter angehört, ist sie
Tugend.
§ 48
Weil die Tugend zum Teil mit dem
natürlichen Charakter
zusammenhängt,
so erscheint sie als eine Moralität von bestimmter Art
und von größerer Lebendigkeit und Intensität.
Sie ist zugleich weniger mit dem
Bewußtsein der Pflicht
verknüpft
als die
eigentliche Moralität.
§ 49
Indem der Mensch gebildet ist, hat er die Möglichkeit zu
handeln.
Insofern er
wirklich handelt,
ist er notwendig in
Verhältnis mit anderen Menschen.
Das erste notwendige Verhältnis,
worin das Individuum zu anderen tritt, ist das
Familienverhältnis.
Es hat zwar auch eine
rechtliche Seite,
aber sie ist der Seite der moralischen Gesinnung,
der Liebe und des Zutrauens untergeordnet.
Erläuterung.
Die Familie macht wesentlich nur eine Substanz,
nur eine Person
aus.
Die Familienglieder sind
nicht Personen gegeneinander.
Sie treten in ein solches Verhältnis erst,
insofern durch ein Unglück das moralische
Band sich aufgelöst hat.
Bei den Alten hieß die Gesinnung der Familienliebe,
das Handeln in ihrem Sinn pietas.
Die
Pietät
hat mit der
Frömmigkeit,
die auch mit diesem Wort bezeichnet wird, gemeinschaftlich,
daß sie ein absolutes Band voraussetzen,
die an und für sich seiende Einheit in einer geistigen Substanz,
ein Band, das nicht durch besondere Willkür oder Zufall geknüpft ist.
§ 50
Diese Gesinnung besteht näher darin, daß jedes
Glied
der Familie
sein Wesen nicht in seiner eigenen Person hat,
sondern daß
nur das Ganze der Familie ihre Persönlichkeit ausmacht.
§ 51
Die Verbindung von Personen zweierlei Geschlechts, welche
Ehe
ist,
ist wesentlich weder bloß natürliche, tierische Vereinigung
noch bloßer Zivilvertrag,
sondern eine moralische
Vereinigung der Gesinnung
in gegenseitiger
Liebe und Zutrauen,
die sie zu
einer
Person macht.
§ 52
Die Pflicht der
Eltern
gegen die Kinder ist,
für ihre
Erhaltung und Erziehung zu sorgen,
- die der
Kinder,
[ihnen] zu
gehorchen,
bis sie selbständig werden,
und sie ihr ganzes Leben zu
ehren,
- die der
Geschwister
überhaupt,
nach Liebe und vorzüglicher Billigkeit gegeneinander zu handeln.
§ 53
Das natürliche Ganze, das die Familie ausmacht,
erweitert sich zu dem
Ganzen eines Volkes und Staates,
in welchem die Individuen für sich einen selbständigen Willen haben.
Erläuterung.
Der Staat geht einerseits darauf hin,
die Gesinnung der Bürger entbehren zu können, nämlich
insofern er sich
von dem Willen der Einzelnen unabhängig machen muss.
Er schreibt daher den Einzelnen genau ihre Schuldigkeiten vor,
nämlich den
Anteil, den sie für das Ganze leisten müssen
.
Er kann sich
auf die bloße Gesinnung nicht verlassen,
weil sie ebenso wohl eigennützig sein
und sich dem Interesse des Staats entgegensetzen kann.
- Auf diesem Wege wird der Staat
Maschine,
ein System äußerer Abhängigkeiten.
Aber auf der andern Seite kann er die
Gesinnung der Bürger nichtentbehren.
Die Vorschrift der Regierung kann bloß das Allgemeine enthalten.
Die wirkliche Handlung, die
Ausfüllung der Staatszwecke,
enthält die
besondere Weise der Wirksamkeit.
Diese kann nur aus dem
individuellen Verstande,
aus der Gesinnung des Menschen entspringen.
§ 54
Der Staat faßt die Gesellschaft nicht nur unter rechtlichen Verhältnissen,
sondern vermittelt als ein wahrhaft
höheres moralisches Gemeinwesen
die
Einigkeit in Sitten, Bildung und allgemeiner Denk- undHandlungsweise
(indem jeder
in dem anderen seine
Allgemeinheit
geistigerweise anschaut und erkennt).
§ 55
In dem
Geiste eines Volkes
hat jeder einzelne Bürger seine
geistige Substanz.
Die Erhaltung der Einzelnen
ist nicht nur auf die Erhaltung dieses lebendigen Ganzen begründet,
sondern dasselbe macht die
allgemeine geistige Natur
oder
das Wesen eines jeden gegen seine Einzelheit
aus.
Die
Erhaltung des Ganzen geht daher der Erhaltung des Einzelnen vor,
und alle sollen diese Gesinnung haben.
§ 56
bloß nach der rechtlichen Seite betrachtet,
insofern der Staat die
Privatrechte der Einzelnen schützt
und der Einzelne zunächst auf das Seine sieht,
ist gegen den Staat wohl eine Aufopferung eines Teils des Eigentums möglich,
um das Übrige zu erhalten.
Der
Patriotismus
aber gründet sich nicht auf diese Berechnung,
sondern auf das
Bewußtsein der Absolutheit des Staats.
Diese Gesinnung, Eigentum und Leben für das Ganze
aufzuopfern,
ist um so größer in einem Volke, je mehr die Einzelnen
für das Ganze mit eigenem Willen und Selbsttätigkeit handeln können
und je größeres Zutrauen sie zu demselben haben.
(Schöner Patriotismus der Griechen.
- Unterschied von Bürger als
bourgeois
[Kleinbürger] und
citoyen
[Staatsbürger].)
§ 57
Die Gesinnung des
Gehorsams gegen die Befehle der Regierung,
der
Anhänglichkeit an die Person des Fürsten und an die Verfassung
und das
Gefühl der Nationalehre
sind die
Tugenden des Bürgers jedes ordnungsmäßigen Staates.
§ 58
Der Staat beruht
nicht
auf einem ausdrücklichen
Vertrag
eines mit allen und aller mit einem
oder des Einzelnen und der Regierung miteinander,
und der
allgemeine Wille des Ganzen
ist
nicht der ausdrückende Wille der Einzelnen,
sondern ist der absolut allgemeine Wille,
der für die Einzelnen an und für sich verbindlich ist.
§ 59
Die Pflichten gegen andere sind zuerst die
Rechtspflichten,
welche mit der Gesinnung, das
Recht um des Rechts willen zu tun,
verknüpft sein müssen.
Die übrigen dieser Pflichten gründen sich auf die Gesinnung,
die anderen nicht nur als abstrakte Person,
sondern auch in ihrer Besonderheit sich selbst gleich zu halten,
ihr
Wohl und Wehe als das seinige zu betrachten
und dies durch
tätige Hilfe
zu beweisen.
§ 60
Diese moralische Denk- und Handlungsweise geht über das Recht hinaus.
Die
Rechtschaffenheit
aber,
die Beobachtung der strengen Pflichten gegen andere,
ist die
erste Pflicht,
die zugrunde liegen muss.
Es kann
edle und großmütige Handlungen
geben
die ohne Rechtschaffenheit sind.
Sie haben alsdann ihren Grund in der
Eigenliebe
und in dem Bewußtsein, etwas Besonderes getan zu haben,
dahingegen das, was die Rechtschaffenheit verlangt,
für alle geltende , nicht willkürliche Pflicht ist.
§ 61
Unter den besonderen Pflichten gegen die anderen
ist die
Wahrhaftigkeit im Reden und Handeln
die erste.
Sie besteht in der Gleichheit dessen, was ist
und dessen man sich bewußt ist,
mit demjenigen, was man gegen andere äußert und zeigt.
- Die
Unwahrhaftigkeit
ist die Ungleichheit und der Widerspruch des Bewußtseins
und dessen, wie man für andere da ist,
somit seines Inneren und seiner Wirklichkeit
und damit die Nichtigkeit an sich selbst.
§ 62
Zur Unwahrhaftigkeit gehört auch vorzüglich,
wenn das, was man
meint, eine gute Absicht
oder Gesinnung sein soll,
dagegen, was man
tut, etwas Böses
ist.
(Diese Ungleichheit zwischen der Gesinnung
und dem, was die Handlung an sich ist,
wäre wenigstens eine
Ungeschicklichkeit,
aber insofern der Handelnde überhaupt Schuld hat,
ist ein solcher, der Böses tut, dafür anzusehen, daß er es auch
bösemeint
.)
§ 63
Es setzt ein
besonderes Verhältnis
voraus, um das Recht zu haben,
jemand die Wahrheit über sein Betragen zu sagen.
Wenn man dies tut, ohne das Recht dazu zu haben, so ist man insofern unwahr,
daß man ein Verhältnis zu dem anderen aufstellt, welches nicht statthat.
Erläuterung.
Einesteils ist es das Erste, die
Wahrheit zu sagen,
insofern man weiß, daß es wahr ist.
Es ist
unedel,
die Wahrheit nicht zu sagen,
wenn es an seinem rechten Orte ist, sie zu sagen,
weil man sich dadurch vor sich selbst und dem anderen
erniedrigt.
Man soll aber auch die
Wahrheit nicht sagen,
wenn man keinen Beruf [Aufforderung] dazu hat oder auch nicht einmal ein Recht.
Wenn man die Wahrheit bloß sagt, um das Seinige getan zu haben,
ohne weiteren Erfolg, so ist es wenigstens etwas Überflüssiges,
denn
es ist nicht darum zu tun, daß ich die Sache gesagt habe,sondern daß sie zustande kommt.
Das
Reden
ist noch nicht die Tat oder
Handlung,
welche höher ist.
- Die Wahrheit wird dann am rechten Ort und zur rechten Zeit gesagt,
wenn sie dient, die
Sache zustande zu bringen.
Die Rede ist ein erstaunlich großes Mittel,
aber es gehört großer Verstand dazu, dasselbe richtig zu gebrauchen.
§ 64
Mit der
Verleumdung,
welche eine wirkliche
Lüge
ist,
ist das
üble Nachreden
verwandt,
die Erzählung von solchen Dingen, die der Ehre eines Dritten nachteilig
und den Erzählenden nicht an und für sich offenbar sind.
Es pflegt in
mißbilligendem Eifergegen unmoralische Handlungen
zu geschehen,
auch mit dem Zusatz, man könne die Erzählungen nicht für gewiß versichern
und
wolle nichts gesagt haben.
Es ist aber in diesem Fall mit der
Unredlichkeit
verbunden,
die Erzählungen, die man nicht verbreiten zu wollen vorgibt,
durch die Tat wirklich zu verbreiten,
und in jenem mit der
Heuchelei,
moralisch sprechen zu wollen
und wirklich böse zu handeln.
Erläuterung.
Heuchelei
besteht darin, daß die Menschen böse handeln,
sich aber gegen andere den
Schein geben, eine gute Absicht zu haben,
etwas Gutes haben tun zu wollen.
Die äußerliche Handlung ist aber nicht von der inneren verschieden.
Bei einer
bösen Tat ist auch die Absicht wesentlich böse
und nicht gut gewesen.
Es kann dabei der Fall sein, daß der Mensch etwas Gutes
oder wenigstens Erlaubtes hat erreichen wollen.
Man kann aber dabei nicht das, was an und für sich böse ist,
zum Mittel von etwas Gutem machen wollen.
Der Zweck oder die
Absicht heiligt nicht die Mittel.
Das moralische Prinzip geht vornehmlich auf die Gesinnung
oder auf die Absicht.
Aber es ist ebenso wesentlich,
daß nicht nur die Absicht, sondern auch die Handlung gut ist.
- Ebenso muss sich der Mensch nicht überreden,
daß er bei dem gemeinen Handeln des individuellen Lebens
wichtige, vortreffliche Absichten habe.
Wie nun der Mensch
einerseits seinen eigenen Handlungen gern gute Absichten unterlegt
und seine an und für sich
unwichtigen Handlungen
durch Reflexionen
groß zu machen sucht,
so geschieht es umgekehrt gegen andere,
daß er großen oder wenigstens
guten Handlungen
anderer
durch eine eigennützige Absicht
etwas Böses beilegen will.
§ 65
Die Gesinnung, anderen mit Wissen und
Willen zu schaden
, ist
böse.
Die Gesinnung, welche sich Pflichten gegen andere,
auch gegen sich selbst zu verletzen erlaubt
aus
Schwäche
gegen seine Neigung, ist
schlecht.
Erläuterung.
Dem Guten steht das
Böse,
aber auch das
Schlechte
entgegen.
Das Böse enthält, daß es mit
Entschluß
des Willens geschieht.
Es hat also vor dem Schlechten das Formelle,
eine Stärke des Willens, die auch Bedingung des Guten ist, voraus.
Das Schlechte hingegen ist etwas
Willenloses.
Der Schlechte geht seiner Neigung nach und versäumt dadurch Pflichten.
Dem Schlechten wäre es auch recht, wenn die Pflichten erfüllt würden,
nur hat er den Willen nicht, seine Neigungen oder Gewohnheiten zu bemeistern.
§ 66
Welche
Dienste
wir anderen Menschen zu erweisen haben
oder erweisen können, hängt von zufälligen Verhältnissen ab,
in denen wir mit ihnen stehen,
und von den besonderen Umständen, in denen wir uns selbst befinden.
Sind wir imstande, einem anderen einen Dienst zu tun,
so haben wir nur dies, daß er
ein Mensch
ist, und seine
Not
zu betrachten.
Erläuterung.
Die
erste Bedingung
, anderen Hilfe zu leisten, besteht darin,
daß wir ein
Recht dazu haben, nämlich sie als Notleidende zubetrachten
und gegen sie als solche zu handeln.
Es muss also die Hilfe
mit ihrem Willen
geschehen.
Dies setzt eine gewisse Bekanntschaft oder Vertraulichkeit voraus.
Der Bedürftige ist als solcher dem Unbedürftigen ungleich.
Es hängt also von seinem Willen ab, ob er als Bedürftiger erscheinen will.
Er wird dies wollen, wenn er überzeugt ist,
daß ich ihn, dieser
Ungleichheit ungeachtet,als einen mir Gleichen behandle und betrachte.
- Zweitens muss ich die
Mittel in Händen haben,
ihm zu helfen.
- Endlich kann es auch Fälle geben, wo seine
Not offenbar
ist
und darin gleichsam die Erklärung seines Willens liegt,
daß ihm geholfen werde.
§ 67
Die Pflicht der
allgemeinen Menschenliebe
erstreckt sich näher auf diejenigen,
mit welchen wir im Verhältnis der Bekanntschaft und Freundschaft stehen.
Die ursprüngliche Einheit der Menschen muss
freiwillig
zu solchen näheren Verbindungen gemacht worden sein,
durch welche
bestimmtere Pflichten entstehen.
(Freundschaft
beruht auf Gleichheit der Charaktere,
besonders des Interesses, ein gemeinsames Werk miteinander zu tun,
nicht auf dem Vergnügen an der Person des anderen als solcher.
Man muss seinen Freunden
sowenig als möglich beschwerlich fallen.
Von Freunden keine Dienstleistungen zu fordern, ist am delikatesten.
Man muss nicht sich die Sache ersparen, um sie anderen aufzulegen.)
§ 68
Die
Pflicht der Klugheit
erscheint zunächst
als eine Pflicht gegen sich selbst in den Verhältnissen zu anderen,
insofern der Eigennutz Zweck ist.
- Der wahre
eigene Nutzen wird aber wesentlich durch sittlichesVerhalten erreicht,
welches somit die wahre Klugheit ist.
Es ist darin zugleich enthalten, daß in Beziehung auf moralisches Betragen
der eigene Nutzen zwar Folge sein kann,
aber nicht als Zweck anzusehen ist.
§ 69
Insofern der eigene Nutzen nicht unmittelbar im moralischen Betragen liegt
und von dem besonderen, im Ganzen zufälligen Wohlwollen anderer abhängt,
so befindet man sich hier in der Sphäre der
bloßen Zuneigungen
zueinander,
und die Klugheit besteht darin, die
Neigungen
der anderen nicht zu verletzen
und sie für sich
zu erhalten.
Aber auch in dieser Rücksicht ist das, was Nutzen bringt,
eigentlich auch dasjenige, was sich an und für sich gehört,
nämlich andere darüber freizulassen,
wo wir weder Pflicht noch Recht haben, sie zu stören
und durch unser Betragen ihre
Zuneigung zu gewinnen.
§ 70
Die
Höflichkeit
ist die Bezeugung von wohlwollenden Gesinnungen,
auch von Dienstleistungen,
vornehmlich gegen solche, mit denen wir noch nicht
in einem näheren Verhältnisse der Bekanntschaft oder Freundschaft stehen.
Sie ist
Falschheit,
wenn diese Bezeugung
mit den entgegengesetzten Gesinnungen verbunden ist.
Die wahre Höflichkeit aber ist als Pflicht anzusehen,
weil wir
wohlwollende Gesinnungen gegeneinander überhaupt habensollen,
um durch Bezeugung derselben
den Weg zu näheren Verbindungen mit ihnen zu öffnen.
(Einen Dienst, eine
Gefälligkeit,
etwas Angenehmes
einem Fremden zu erweisen, ist Höflichkeit.
Dasselbe aber sollen wir auch einem Bekannten oder Freunde erweisen.
Gegen Fremde und solche, mit denen wir nicht in näherer Verbindung stehen,
ist es um den
Schein des Wohlwollens
und um nichts als diesen Schein zu tun.
Feinheit, Delikatesse
ist, nichts zu tun oder zu sagen,
was nicht das Verhältnis erlaubt.
- Griechische Humanität und Urbanität bei Sokrates und Platon.)