Diese Vorlesungen sind der Ästhetik gewidmet;ihr Gegenstand ist das weite Reich des Schönen ,
und näher ist die Kunst, und zwar die schöne Kunst ihr Gebiet.
Durch diesen Ausdruck nun schließen wir sogleich das Naturschöne aus .
 
Im gewöhnlichen Leben zwar ist man gewohnt, von schöner Farbe,
einem schönen Himmel, schönem Strome,
ohnehin von schönen Blumen, schönen Tieren
und noch mehr von schönen Menschen zu sprechen,
doch läßt sich hiergegen zunächst schon behaupten,
daß das Kunstschöne höher stehe als die Natur.
 
Denn die Kunstschönheit ist die aus dem Geiste geboreneund wiedergeborene Schönheit ,
und um soviel der Geist und seine Produktionen
höher steht als die Natur und ihre Erscheinungen,
um soviel auch ist das Kunstschöne höher als die Schönheit der Natur.
 
Ja formell betrachtet, ist selbst ein schlechter Einfall ,
wie er dem Menschen wohl durch den Kopf geht,
höher als irgendein Naturprodukt ,
denn in solchem Einfalle ist immer die Geistigkeit und Freiheit präsent.
 
Dem Inhalt nach freilich erscheint
z.B. die Sonne als ein absolut notwendiges Moment,
während ein schiefer Einfall als zufällig und vorübergehend verschwindet;
aber für sich genommen ist solche Naturexistenz wie die Sonne indifferent,
nicht in sich frei und selbstbewußt,
und betrachten wir sie in dem Zusammenhange ihrer Notwendigkeit mit anderem,
so betrachten wir sie nicht für sich und somit nicht als schön.
 
 
Das Höhere des Geistes und seiner Kunstschönheit der Natur gegenüber
ist aber nicht ein nur relatives,
sondern der Geist erst ist das Wahrhaftige, alles in sich Befassende ,
so daß alles Schöne nur wahrhaft schön ist als dieses Höheren teilhaftig
und durch dasselbe erzeugt.
 
In diesem Sinne erscheint das Naturschönenur als ein Reflex des dem Geiste angehörigen Schönen ,
als eine unvollkommene, unvollständige Weise,
eine Weise, die ihrer Substanz nach im Geiste selber enthalten ist.
[das Schöne entsteht im Auge des Betrachters]
 
- außerdem wird uns die Beschränkung auf die schöne Kunst sehr natürlich vorkommen,
denn soviel auch von Naturschönheiten
- weniger bei den Alten als bei uns - die Rede ist,
so ist doch wohl noch niemand auf den Einfall gekommen,
den Gesichtspunkt der Schönheit der natürlichen Dinge herauszuheben
und eine Wissenschaft,
eine systematische Darstellung dieser Schönheiten machen zu wollen.
 
Man hat wohl den Gesichtspunkt der Nützlichkeit herausgenommen
und hat z.B. eine Wissenschaft der gegen die Krankheiten dienlichen
natürlichen Dinge, eine materia medica, verfaßt,
eine Beschreibung der Mineralien, chemischen Produkte, Pflanzen, Tiere,
welche für die Heilung nützlich sind,
aber aus dem Gesichtspunkte der Schönheit
hat man die Reiche der Natur nicht zusammengestellt und beurteilt.
 
Wir fühlen uns bei der Naturschönheit zu sehr im Unbestimmten,
ohne Kriterium zu sein,
und deshalb würde solche Zusammenstellung zu wenig Interesse darbieten.

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Die Notwendigkeit des Kunstschönen leitet sich aus den Mängeln der unmittelbaren Wirklichkeit her,
und die Aufgabe desselben muss dahin festgesetzt werden,
daß es den Beruf habe, die Erscheinung der Lebendigkeit
und vornehmlich der geistigen Beseelung
auch äußerlich in ihrer Freiheit darzustellen
und das Äußerliche seinem Begriffe gemäß zu machen.
 
Dann erst ist das Wahre
aus seiner zeitlichen Umgebung,
aus seinem Hinaussichverlaufen in die Reihe der Endlichkeiten
herausgehoben
und hat zugleich eine äußere Erscheinung gewonnen,
aus welcher nicht mehr die Dürftigkeit der Natur und der Prosa hervorblickt,
sondern ein der Wahrheit würdiges Dasein,
das nun auch seinerseits in freier Selbständigkeit dasteht,
indem es seine Bestimmung in sich selber hat
und sie nicht durch anderes in sich hineingesetzt findet.