Was ist der absolute Geist und wie ist seine Einteilung?

Der Geggenstand den Hegel mit “Geist” bezeichnet, ist nichts geheimnisvolles, sondern der Gegenstand, mit dem sich an den modernen Universitäten klassisch die “Geisteswissenschaften,” oder modern “Gesellschaftswissenschaften” oder “Kulturwissenschaften” beschäftigen. (in den antiken philosophischen Systemen hieß dieser Systemteil “Ethik”).

Der absolute Geist als dritter, abschliessender Teil der Philsophie des Geistes befasst sich mit den Bereichen Kunst, Religion und Philosophie, in denen wir unsere Gedanken und Handlungen reflektieren, insbesondere unsere Gründe, Werte und Ziele hinter ihnen. Solche grundlegenden Werte und Konzepte bestimmen unser Leben auf tiefster Ebene und durch deren Reflexion kommen wir einzeln und kollektiv zu einem höheren Niveau des Verständnisses und unserer Freiheit.

Der absolute Geist ist insofern “absolut,” als er in diesem Bereich nicht durch etwas anderes als durch sich selbst und seine eigene Stufe der Entwicklung beschränkt ist (dies die Hegelsche Verwendung des Wortes “Absolut,” i.S. von unbeschränkt und insofern “frei”).

Abgrenzung gegenüber der normalen Reflektion im objektiven Geist

Im “Objektiven Geist” findet auch eine Reflektion der Ziele/Zwecke (Zweck kommt übrigens ethymologisch von der Zwecke, die die Zielscheibe in der Mitte festhielt) usw statt, aber zum einen (vermittelt durch Familie/Sozialisation, aber auch Gesetz und Kultur) als individuelles Gewissen, zum anderen in Form von positivem Bezug auf/ Umgang mit den bestehenden Zwecken und Mitteln (typische Fragen: wie kriege ich Kinder und Kariere unter einen Hut, wie komme ich zu Geld, wie konsolidieren wir den Staatshaushalt usw)

Dabei stellt ein Mensch erst eimal weder die gegebenen Mittel, noch seine Ziele in Frage. Wenn er aber dabei auf Problem stößt (oder auch etwas neues machen will), dann überlegt er auch, wie er etwas anstellen soll, oder stellt gar seine Ziele in Frage, überlegt sich neue Strategien/neue Prioritäten oder gar neue Ziele.

Die passiert beides sowohl auf der Ebene des subjektiven Geistes der Einzelnen Subjekte, wie auch auf der Ebene des objektiven Geistes innerhalb von Institutionen usw.

Problem ist hierbei, dass dabei aus praktischen Gründen immer bestimmte Vorgaben als gegeben genommen werden, so dass die Neueinsichten immer gewisen Beschränkungen unterliegen.

Bestimmung absoluter Geist

Im absoluten Geist wird die menschliche Theorie und Praxis des endlichen (subjektiven und objektiven) Geistes hingegen ganz grundsätzlich reflektiert (nicht nur nach praktischen Gesichtspunkten), einschließlich ihrer Grenzen. Dabei werden die Zwecke und Maßstäbe nochmals extra, explizit zum Thema gemacht, auch durch Reflektion darauf, was das bedeutet, und dadurch auch mit Blick über die “kurzatmige Bewährung im gerade Gegebenen” hinaus, mir der Möglichkleit, bestehende Grenzen des Blicks (durch die Anpassung/Fokussierung auf das “realistische,” gegebene) zu überschreiten.

Gemessen wird hier an den viel grundsätzlicheren Gesichtspunkten des “Schönen, Wahren, Guten.” Damit befreit sie die Überlegungen des Subjektiven und objektiven Geistes von ihren dort vorhandenen Schranken, und hat damit die Möglichkeit, in der Befreiung davon, zu ganz grundsätzlichen Überschreitungen bestehender Denkschranken zu kommen.

Damit dies möglich ist, muss ich dann in der Philosophie auch tatsächlich alle anderen Maßstäbe außen vor lassen, und mich tatsächlich auf das Finden der Wahrheit als obersten Maßstab ganz einlassen.

Rückwirkung auf den endlichen Geist

Diese Erkenntnisse haben dann natürlich wieder Rückwirkungen auf den subjektiven Geist (z.B. handelt ein Individuum, welches sich die Lehren des Buddhismus einleuchten lässt, wahrscheinlich anders als ein anderes) und auf den “objektiven Geist” (denn selbstverständlich will man das für richtig erkannte auch umsetzen).

Die Wirkung geht dabei zunächst über den “subjektiven Geist,” sprich die Einzelindividuen (jedes Wirken ist über die Individuen vermittelt!), und über die Kultur und später dann auch (durch Änderungen in den Institutionen) auf den “Objektiven Geist” (bzw., wo nicht, gibt es auf längere Sicht “Sollbruchstellen”: Untergang, Revolution o.ä.)

Insofern die im “absoluten Geist” gewonnenen Erkenntnisse dann zur Umbildung der Wirklichkeit führen (also verwirklicht werden), ergeben sich Parallelen zur Idee in der Logik.

Verhältnis von Weltgeschichte und Geschichte der Kunst, Religion und Philosophie

Die Staaten haben ihre eigene Geschichte, zusammen: Weltgeschichte. Ebenso hat jeder Teil des absoluten Geistes (Kunst, Religion, Philosophie) seine eigene Geschichte, die mit der Weltgeschichte verbunden ist. Wegen der oben beschriebenen Freiheit des absoluten Geistes (seiner Reflektion, seiner Objektivität und seiner Möglichkeit Grenzen zu überschreiten)) können diese Geschichte des absoluten Geistes nicht einfach auf die Weltgeschichte reduziert werden, also nicht von dieser einfach abgeleitet werden (dies z.B. gegen verbreitete Vorstellungen des Basis-Überbau-Konzeptes des “HistoMats”).

Die Geschichte dieser Reflektion ist die Geschichte der einzelnen Sphären des absoluten Geistes, die Sphäre des Wirkens auf den objektiven Geist ist die Kultur und öffentlich Meinung. Von da wird es zunächst partiel umgesetzt in Familien, Institutionen usw, bis in den Staat. Diese objektiven Änderungen sind dann Gegenstand der Weltgeschichte.

zur Reihenfolge der Einteilung des absoluten Geistes

Gründe für die von Hegel angegebene Sequenz (Kunst-Religion-Philosophie)

Es gibt gute Gründe dafür, dass Hegel die Sequenz so aufbaut, wie er es macht:

Gründe die Sequenz umzustellen (Religion-Kunst-Philosophie)

Einige dieser angegebenen Gründe sind aber auch schwach. Ich denke demgegenüber, dass es gewichtigere Gründe dafür gibt, die Sequenz in Religion - Kunst - Philosophie umzustellen:

Umstellung der Sequenz bei Hegel selbst

Bemerkenswerterweise spricht Hegel selbst in seinem Vorwort zu seiner “Philosophie der Weltgeschichte”3 von der Abfolge “Religion - Kunst - Philosophie” und gibt dafür sehr gute weitere Gründe an:

Alles geistige Tun hat nur den Zweck, sich dieser Vereinigung bewußt zu werden, d. h. seiner Freiheit.

  • Unter den Gestalten dieser gewußten Vereinigung steht die Religion an der Spitze. In ihr wird der existierende, der weltliche Geist sich des absoluten Geistes bewußt, und in diesem Bewußtsein des an und für sich seienden Wesens entsagt der Wille des Menschen seinem besonderen Interesse; er legt dieses auf die Seite in der Andacht, in welcher es ihm nicht mehr um Partikuläres zu tun sein kann. Durch das Opfer drückt der Mensch aus, daß er seines Eigentums, seines Willens, seiner besonderen Empfindungen sich entäußere. Die religiöse Konzentration des Gemüts erscheint als Gefühl, jedoch tritt sie auch in das Nachdenken über: der Kultus ist eine Äußerung des Nachdenkens.

  • Die zweite Gestalt der Vereinigung des Objektiven und Subjektiven im Geiste ist die Kunst: sie tritt mehr in die Wirklichkeit und Sinnlichkeit als die Religion; in ihrer würdigsten Haltung hat sie darzustellen, zwar nicht den Geist Gottes, aber die Gestalt des Gottes; dann Göttliches und Geistiges überhaupt. Das Göttliche soll durch sie anschaulich werden, sie stellt es der Phantasie und der Anschauung dar. -

  • Das Wahre gelangt aber nicht nur zur Vorstellung und zum Gefühl, wie in der Religion, und zur Anschauung, wie in der Kunst, sondern auch zum denkenden Geist; dadurch erhalten wir die dritte Gestalt der Vereinigung - die Philosophie. Diese ist insofern die höchste, freieste und weiseste Gestaltung4.

bessere Parallelen zum Rest des Systems

Es ergeben sich auf diese Weise mehr sinnvolle Parallelen mit dem Rest des Systems (man vergleiche die folgenden Parallelen mit den Parallelen, die man erhielte, wenn man jeweils nach “orthodoxer Lesart” an erster Stelle Kunst und an zweiter Stelle Religion setzt):

Wahrscheinlich erhält man das beste Systemverständnis, wenn man jeweils verschiedene Sequenzen durchspielt und schaut, was sie für Auswirkungen haben.

empirisch-historische Plausibilisierung der Sequenz Religion-> Kunst->Philosophie

Religion -> Kunst

Untersucht man die Kunstprodukte im ihrem Verhältnis zur Religion, dann zeigt die überwältigende Mehrzahl, dass die Kunstwerke ihren Inhalt aus der Religion schöpfen, diese darstellen, nicht das umgekehrt die Religion sich aus der Kunst ableitet:

Auch das zweite Thema vieler Kunst (zumal nach den gängigen marxistischen Basis-Überbau-Theorien), die Darstellung/Verherrlichung des Staates und des Herrschers, sind (insbesondere in den Anfangszeiten) religiös geprägt: der Herrscher (auf den der Staat sich insbesondere in der Anfangszeit konzentriert) ist selbst Gott, Gottähnlich, oberster Priester usw: das ist der Fall bei praktisch allen asiatischen und orientalischen Herrschern und Staaten der Antike und geht bis zum absolutistischen Sonnenkönig und Gottesgnadentum (Eric Voegelin hat in seiner Abhandlung “Die Politischen Religionen” von 1938 weitere Parallelen bis in die politischen Richtungen und Parteien des 20.Jahrhunderts gesehen).

Und umgekehrt könne wir auch aus den Kunstproduktionen schließen, was die Menschen im Innersten bewegt: in der Neuzeit kommen Gedanken der Freiheit und des Individuums hinzu (sich entwickelnd u.a. aus der christlichen Religion) sowie der moderne “Gott des Mammons” (bis hin zur Werbung).

Am Beispiel der Musik

Zwar hat im sekulären Westen die dezidiert christliche Musik heutzutage eher einen Nischencharachter, aber (nicht zuletzt über seit Jahrhunderten praktizierte musikalische Erstsozialisation mittels Kirchenchor usw) sie wirkt als Tradition weiter (etwa beim Blues & Soul die sich formell und inhaltlich von den Spirituals herleiten). Bei vieler außereuropäischer “World Music” ist es eh selbstverständlich, dass diese ihrer Religion in ihrer Musik Ausdruck geben (und auch die Reggae-Musik hat ihre Wurzeln in der Reggae-Religion).

Sodann hat Musik, und gerade auch die populäre, “unreligiöse,” doch den zumindest impliziten Anspruch, Ausdruck des (nicht unbedingt philosophisch durchdacht und abgeleiteten) Lebensgefühls einer Generation (oder zumindest einer Gruppe darin) zu sein, vom Rock-and Roll der 50er Jahre über die Flower-Power etc der Sixties über Punk bis hin zu HipHop und Techno. So kann man also umgekehrt aus diesen musikalischen Äußerungen (und sonstigen künstlerischen Äußerungen auch im weitesten, ja trivialen Sinne, etwa Comics, TV, Filme, Werbung usw) das Lebensgefühl der Künstler (Produzenten) und ihres Publikums (Konsumenten) - und damit zumindest eine Art Minimalset an Grundüberzeugungen, Minimalreligion im weitesten Sinne - ableiten.

Religion und Kunst -> Philosophie

schließlich ist klar, dass das Bedürfnis, sich über die eigenen Grundlagen wissenschaftlich klar zu werden, nicht am Anfang steht, sondern aus der Beschäftigung mit den religösen Überzeugungen und künstlerischen Äußerungen erwächst: Theologie, Religionswissenschaft und Religionsphilosophie (als wissenschaftliche Bearbeitungen der Religion) und Kunstwissenschaft und Kunstphilosophie (als wissenschaftliche Bearbeitung der Kunst) entwickeln sich vergleichsweise spät (und jedenfalls weit nach dem ersten Auftreten von Religion und Kunst).

Dass die Wissenschaft/Philosophie der Wissenschaft/Philosophie selbst der natürliche Anfang (als Logik) und Abschluss (als Philosophiegeschichte) einer wissenschaftlichen /philosophischen systematischen Gesamtdarstellung aller Themen der Wissenschaft / Philosophie darstellt, sollte auch logisch / systematisch einleuchtend sein (hierüber gibt es auch keine Differenz zur hegelschen Darstellung).

Rückkopplungskreise - zu den angeblichen quietistischen Konsequenzen des Abschlusses mit der Philosophie

Die angeblich quietistischen Konsequenzen, die der Abschluss des Systems mit der “nur theoretischen” Philosophie nach Ansicht vieler Kritiker (so auch Vittorio Hösle in seinem Buch “Hegels System”) haben soll, lassen sich dadurch begegnen, dass das System ja, wie oben (im Abschnitt “Rückwirkung auf den endlichen Geist”) und an anderer Stelle gezeigt, einen Kreis darstellt (der in einem Buch aber natürlich sequentiell mit einem Anfang und Ende dargestellt werden muss).

Dabei schlage ich vor, die Zirkularität des Systems auch in den folgenden Rückkoppelungen zu denken, dass


  1. Dies wurde bereits von Vittorio Hösle in seinem Buch “Hegels System” (Meiner Verlag Hamburg 1988, S.593ff) kritisiert. Folgerichtig kritisiert Hösle auch die Abfolge von Anschauung - Vorstellung - Denken als linear und nicht-dialektisch (Hösle 1988, S.387). Tatsächlich waren diese Argumente von Hösle und die Tatsache, dass Hösle selbst in seinem Buch keine explizite Lösung für dieses Problem gefunden hat, der Beginn meines Nachdenkens über diese Sequenz und damit die Geburtsstunde dieses Artikels.︎↩︎

  2. Auch dies ist bei Hösle in “Hegels System” ausführlich ausgeführt, ergibt sich aber natürlich auch aus Hegels Darstellung selbst (etwa in Enz.§82).↩︎

  3. Die Stelle findet sich in der Suhrkamp TWA in Band 12, S.67-68.↩︎

  4. Man beachte, wie Hegel selber hier nicht nur die Reihenfolge in Religion, Kunst, Philosophie ändert, sondern dass er folglich auch die als Begründung für die “klassische” Sequenz immer wieder (auch von Hegel selbst) genannte Reihenfolge von Anschauung - Vorstellung - Denken (siehe theoretischen Geist) in die mehr dialektische Reihenfolge von Vorstellung - Anschauung - Denken ändert.↩︎