Version vom 18.10.2020, 22:151

Ursprung bei Friedrich Engels in dieser Form

Das genannte Zitat wird gerne Hegel zugeschrieben, es lässt sich aber so nicht 1:1 bei Hegel finden. In dieser Form geht es vielmehr auf Friedrich Engels2 zurück, der Satz findet sich in Friedrich Engels Schrift “Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft,” dem so genannten “Anti-Dühring”3 (Hervorhebungen von mir):

Hegel war der erste, der das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit richtig darstellte. Für ihn ist die Freiheit die Einsicht in die Notwendigkeit. »Blind ist die Notwendigkeit nur, insofern dieselbe nicht begriffen wird.« Nicht in der geträumten Unabhängigkeit von den Naturgesetzen liegt die Freiheit, sondern in der Erkenntnis dieser Gesetze, und in der damit gegebnen Möglichkeit, sie planmäßig zu bestimmten Zwecken wirken zu lassen.

Es gilt dies mit Beziehung sowohl auf die Gesetze der äußern Natur, wie auf diejenigen, welche das körperliche und geistige Dasein des Menschen selbst regeln - zwei Klassen von Gesetzen, die wir höchstens in der Vorstellung, nicht aber in der Wirklichkeit voneinander trennen können. Freiheit des Willens heißt daher nichts andres als die Fähigkeit, mit Sachkenntnis entscheiden zu können. Je freier also das Urteil eines Menschen in Beziehung auf einen bestimmten Fragepunkt ist, mit desto größerer Notwendigkeit wird der Inhalt dieses Urteils bestimmt sein; während die auf Unkenntnis beruhende Unsicherheit, die zwischen vielen verschiednen und widersprechenden Entscheidungsmöglichkeiten scheinbar willkürlich wählt, eben dadurch ihre Unfreiheit beweist, ihr Beherrschtsein von dem Gegenstande, den sie grade beherrschen sollte.

Freiheit besteht also in der auf Erkenntnis der Naturnotwendigkeiten gegründeten Herrschaft über uns selbst und über die äußere Natur; sie ist damit notwendig ein Produkt der geschichtlichen Entwicklung. Die ersten, sich vom Tierreich sondernden Menschen waren in allem Wesentlichen so unfrei wie die Tiere selbst; aber jeder Fortschritt in der Kultur war ein Schritt zur Freiheit.

[Es folgen S.106/107 einige Bemerkungen zur darauf aufbauenden Geschichtskonzeption von Engels]

Hegels Enz. Logik, §147

Das obige Hegelzitat (‘Blind ist…’), welches Engel als Beleg in seinem Anti-Dühring angibt, findet sich bei Hegel im Zusatz zu §147 seiner Enzyklopädie (z.B. TWA4 Bd.8, S.289).

Hegels. Enz. §147 Zusatz

Darin heißt es (Hervorhebung des von Engels zitierten Satzes in fett durch mich):

Von der Notwendigkeit pflegt gesagt zu werden, daß sie blind sei,
und zwar insofern mit Recht, als in ihrem Prozeß
der Zweck noch nicht als solcher für sich vorhanden ist.
Der Prozeß der Notwendigkeit beginnt mit der Existenz zerstreuter Umstände,
die einander nichts anzugehen
und keinen Zusammenhang in sich zu haben scheinen.
[…]
Man sagt dann, aus solchen Umständen und Bedingungen
sei etwas ganz anderes hervorgegangen,
und nennt deshalb die Notwendigkeit, welche dieser Prozeß ist, blind.
Betrachten wir dagegen die zweckmäßige Tätigkeit,
so haben wir hier am Zweck einen Inhalt,
der schon vorher gewußt wird,
und diese Tätigkeit ist deshalb nicht blind, sondern sehend.
[…]
[Der Begriff] ist die Wahrheit der Notwendigkeit
und enthält dieselbe als aufgehoben in sich,
so wie umgekehrt die Notwendigkeit an sich der Begriff ist.

Blind ist die Notwendigkeit nur, insofern dieselbe nicht begriffen wird,
und es gibt deshalb nichts Verkehrteres als den Vorwurf eines blinden Fatalismus,
welcher der Philosophie der Geschichte darum gemacht wird,
weil dieselbe ihre Aufgabe als die Erkenntnis der Notwendigkeit dessen,
was geschehen ist, betrachtet.

Einordnung innerhalb der hegelschen Logik

Gliederung der Logik

Der Satz kommt aus dem ersten Band von Hegels “Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften,” dieser behandelt die Logik. In seiner Logik geht es Hegel darum, die Kategorien zu untersuchen, mit denen das (wissenschaftliche) Denken versucht die Wirklichkeit möglichst angemessen und vollständig zu erfassen. Dabei ordnet er die Kategorien so, dass Anfangs die relativ einfachen, abstrakten, vorraussetzungslosen Kategorien kommen, und im Laufe des Buches, dann, auf diesen aufbauend, immer komplexere Kategorien behandelt werden, die immer besser geeignet sind, die Wirklichkeit zu erfassen.

Gliederung Wirklichkeit

Der Paragraph 147 (und auch der weiter unten zitierte Paragraph 158) steht dabei am Ende des 2.Abschnittes der Logik (der Wesenslogik), in der die Kategorie der Wirklichkeit behandelt wird. Kenne ich die Wirklichkeit (“in Wirklichkeit verhält es sich so und so”), weiss ich, inwiefern die Erscheinungen der Gegenstände zufällig oder notwendig “bewirkt” sind. Dabei sehe ich, dass äusserliche Gründe “zufälliger” sind, als innerliche Ursachen (weil bei äußerlichen Gründen noch das Zusammentreffen der äusserlichen Umstände hinzukommen muss).

Von der letzten Kategorie der Wesenslogik, der Wechselwirkung (aus der die Zitate entnommen sind) in der die Gegenstände wechselseitig aufeinander einwirken, kommt der Übergang zum Begriff, in dem die Gegenstände, die auf einander einwirken, in einem logisch geordneten System zusammen gefasst sind (Beispiel: von der Wechselwirkung von Sonne, Wind, Regen usw. zum Begriff/System des Wetters). In diesem geordneten Ganzen sind alle relevanten Wirkursachen in einer geordneten “Totalität” von “Momenten” zusammengefasst, so dass die Wirkungen innerhalb des Systems statt finden, statt zufällig von aussen.

Insofern ist dieses System (“Begriff”) als Ganzes “frei,” weil nicht von äußeren Umständen bestimmt.(Siehe dazu Enz.§158/§159). Im Begriff ist also “Freiheit” erreicht, der Begriff ist frei.

Hegel sagt daher:

Hegels. Enz. §158

§ 158

Diese Wahrheit der Notwendigkeit ist somit die Freiheit,
und die Wahrheit der Substanz ist der Begriff,
- die Selbständigkeit,
welche das sich von sich Abstoßen in unterschiedene Selbständige,
als dies Abstoßen identisch mit sich,
und diese bei sich selbst bleibende Wechselbewegung nur mit sich ist.

Weitere Erklärung von “die Wahrheit der Notwendigkeit ist somit die Freiheit”

Hegels benutzt dabei, gemäß seinem Spruch “Das Wahre ist das Ganze” (siehe dazu https://werkstatt.hegel.net/index.php?title=Was_ist_Wahrheit) den Ausdruck “x ist die Wahrheit von y,” wenn x umfassender als y ist und so bestimmte Beschränkungen von y aufhebt. Wenn Hegel an dieser Stelle sagt: “Diese Wahrheit der Nothwendigkeit [ist] somit die Freiheit” (Enz.§158), dann meint er, dass die Notwendigkeit in der Freiheit (im hegelschen Sinne) aufgehoben enthalten ist.

Dabei ist der Übergang zur “logischen” Kategorie des Begriffs/der Freiheit im Sinne von “durch sich selbst bestimmt,” an dieser Stelle rein innerlogisch zu verstehen, noch nicht in Bezug auf die Natur (Erkenntnis von deren Gesetzen) oder des Geistes (Verwirklichung der eigenen Zwecke usw.).

An dieser Stelle sollte daher innerlogisch klar sein, dass nicht alle Notwendigkeit Freiheit beinhaltet, aber umgekehrt dass alle Freiheit auch Aspekte von Notwendigkeit mit einschließt und zu ihrer Grundlage hat (darin kommt das hegelsche Prinzip der Aufhebung in der wahren Unendlichkeit zum Ausdruck), dieser also nicht widerspricht.

Oder, wie Hegel es weiter unten im Zusatz zu §147 ausdrückt:

Dies ist die Verklärung der Notwendigkeit zur Freiheit,
und diese Freiheit ist nicht bloß die Freiheit der abstrakten Negation,
sondern vielmehr konkrete und positive Freiheit.
Hieraus ist dann auch zu entnehmen,
wie verkehrt es ist, die Freiheit und die Notwendigkeit
als einander gegenseitig ausschließend zu betrachten.

Allerdings ist die Notwendigkeit als solche noch nicht die Freiheit;
aber die Freiheit hat die Notwendigkeit zu ihrer Voraussetzung
und enthält dieselbe als aufgehoben in sich.

Bedeutung für die Naturwissenschaft und für das tägliche Leben

Angewandt auf die Realphilosophie (s.u.):

Die Naturwissenschaft untersucht in erster Linie Gegenstände, für die die Kategorien der Seins- und Wesenslogik ausreichen (und daher darin weder Freiheit noch Gott finden können)5, während die Geistes-/Gesellschaftswissenschaft für Ihre Gegenstände auch die Kategorien der Begrifslogik benötigt. (Als Wissenschaft selbst muss natürlich auch die Naturwissenschaft der Begriffslogik genügen).

Als Wissenschaft setzt die Naturwissenschaft allerdings die Begriffslogik vorraus und muss dieser genügen. Als Wissenschaft gibt sich Naturwissenschaft nicht einfach damit zufrieden, von Quanten und Atomen her determiniert zu sein, sondern legt wert darauf, dass ihre Resultate sehr wohl auch den untersuchten Gegenständen gemäß sind.

Die Naturwissenschaft muss also, wenn sie sich ernst nimmt, implizit selbst davon ausgehen, dass sich Determinismus und so verstandene Freiheit nicht widersprechen. Die Kategorie der Freiheit, wie sie in der Geistes-/Gesellschaftswissenschaft genutzt wird, widerspricht also nicht der deterministischen Notwendigkeit der Naturwissenschaft, sondern baut darauf auf (was einen eigenen Artikel wert wäre).

Weil wir die Wirklichkeit einschließlich unseres Denken und Handelns reflektieren können und gemäß unserer Einsichten handeln können, sind wir auch nicht darauf festgelegt, in unserem Verhalten und Wertvortellungen die Natur zu kopieren, wie es die Sozialdarwinisten meinten (wären wir darauf festgelegt, wäre es für die Sozialdarwinisten auch gar nicht notwendig, dagegen an zu gehen)

schließlich, bezogen auf das tägliche Leben: Jemand, der auf diese Weise frei/in Freiheit handelt, wird dabei sicherlich nicht unabhängig von den Naturgesetzen (oder gar gegen diese) handeln oder sich seine Freiheit darin beweisen, dass er gegen die ihn bestimmenden, selbst gewählten Zwecke handelt.

Verhältnis vom “Begriff” in der Logik zum “Bewußtsein” in der “Realphilosophie”

Wir hätten so geklärt, inwiefern die “Wahrheit” (im hegelschen Sinne) der Notwendigkeit die Freiheit ist, haben also den logischen Zusammenhang zwischen Notwendigkeit und Freiheit innerhalb der Logik geklärt.

Das Pseudozitat bringt aber noch die Kategorie der Einsicht hinzu, die als “Realkategorie” nicht direkt in die Logik gehört, sondern in die Geistesphilosophie (Wissenschaft des Menschen).

Nun helfen die logischen Kategorien nicht nur, die Wirklichkeit der Natur und der menschlichen Gesellschaft/Kultur (Geist) (zusammen, als Gegenstand der Philosophie, “Realphilosophie”) logisch wissenschaftlich zu ordnen, sondern man kann auch Gegenstände in Natur und Geist finden, die bestimmten Kategorien der Logik besonders entsprechen. Erwartungsgemäß finden sich in den logisch geordneten Realphilosophie die Entsprechungen zu den ersten Teilen der Logik am Anfang der Realphilosophie, die zu den letzten Teilen der Logik entsprechend später)6.

In der Realphilosophie entspricht dem Begriff am ehesten das “Ich” des “Subjektiven Geistes”, näher das “Bewusstsein” und seiner “Psychologie”.

So wie sich alle Gegenstände “auf den Begriff” bringen lassen, kann alles Gegenstand des Bewusstseins werden und diese können vom Bewusstsein begriffen werden (so als Odyssee auf dem Weg zur wissenschaftlichen Erkenntnis geschildert in der Phänomenologie des Geistes und in Bezug auf die theoretische Erkenntnisleistung selbst in dem Abschnitt zum “praktischen Geist7). Im Zusammenhang mit dem besprochenen Auschnitt der Logik ist dabei insbesondere relevant, dass es natürlich das jeweilige “Ich”/menschliche Bewußtsein ist, dass die Gegenstände der Enzyklopädie, einschließlich der Logik, denkt (so im Moment etwa der Schreiber bzw. Leser dieser Zeilen).

So wie der Begriff auch auf sich selbst angewandt werden kann und sich daher selbst im “Begriff des Begriffs” darstellen und begreifbar machen kann, so kann das Bewußtsein über alle seine Inhalte, und dabei auch über sich selbst reflektieren und darin seine Freiheit finden (der “freie Geist” als “Spitze”/”Krönung” des Ichs des “subjektiven Geistes.” Der freie Geist entspricht auch der Idee in der Logik: So wie sich die Idee im Objekt dem Begriff gemäß verwirklicht (Siehe auch nächster Abschnitt), so verwirklicht sich der freie Geist im Objektiven und Absoluten Geist. Beides zusammen übrigens die logisch-ontologische Grundlage für die Würde und Freiheit aller Menschen.

Dabei kann der Mensch (im Gegensatz zu allen übrigen uns bekannten Gegenständen in der Natur) auch die Logik selbst bedenken und nach dieser handeln (alle übrigen Gegenstände der Natur lassen sich zwar logisch ordnen und wissenschaftlich erkennen, aber sie erkennen sich nicht selbst, geschweige denn die Logik).

Insofern können Menschen z.B., wenn sie Hegel oder diese Zeilen lesen, erkennen und somit “Einsicht” zeigen, inwiefern die Freiheit die Wahrheit der Notwendigkeit in der Logik ist.

Freiheit in der Realphilosophie, Zwecke setzen und verwirklichen

Gliederung Begriffslogik

Im weiteren Verlauf der Begriffslogik (als dritten und abschliessenden Teils der Logik) beschäftigt sich Hegel nach dem subjektivem Begriff (1.Teil der Begriffslogik) des Begriffs als solchen (einschließlich seines Ausdrucks/seiner Anwendung im Urteil und Schluss) in dem Objekt Abschnitt (2.Teil der Begriffslogik) mit den verschiedener Kategorien von Begriffsanwendungen auf Gegenstände auserhalb der Logik, angefangen vom Mechanismus, bei dem der Zusammenhang der Momente vergleichsweise äusserlich/zufällig ist, über den Chemisums, bei dem, wie die Momente zusammenhängen von diesen selbst bestimmt ist, jedoch immer noch äusserlich vom Ergebnis her (chemische Elemente können auf vielerlei Weise viele Moleküle ergeben, auch wenn bestimmte Atome nur bestimme Moleküle ergeben), während im Zweck, als letzter Kategorie des Objektes, dieser das Verhältnis der Momente (intendierter/subjektiver Zweck - Mittel - ausgeführter Zweck) ähnlich ordnet wie im logischen Schluß.

Gliederung Zweck

Etwas kann nun zweckmäßg geordnet sein nach einem ihm äusserlichen Zweck (dies bei der Technik, bei denen die Menschen die gegebenen Gegenstände gemäß ihrem menschlichen Zweck anordnen und nutzen) oder nach einem inneren Zweck (beim Leben), dies daher der Übergang zur Idee, bei welcher der Begriff sich im Objekt verwirklicht (siehe dazu auch den vorherigen Abschnitt).

Hegel weist bereits im Zitat oben aus dem Zusatz zu §147 darauf hin, dass die (nicht nur abstrakte sondern) wirkliche Freiheit in der menschlichen zweckmäßigen Tätigkeit erreicht ist:

Betrachten wir dagegen die zweckmäßige Tätigkeit,
so haben wir hier am Zweck einen Inhalt,
der schon vorher gewußt wird,
und diese Tätigkeit ist deshalb nicht blind, sondern sehend.

Freiheit erlaubt mir meine von mir bedachte und gewollte vernünftige Zwecke auf vernünftige Weise gemäß meiner Erkenntnis/Einsicht zu verfolgen.8

Ist etwas also zur Verfolgung meiner von mir geteilten Zwecke notwendig, so steht dies nicht im Widerspruch zu meiner Freiheit sondern dient gerade deren Verwirklichung (dies auch in Abgrenzung zu den Vorstellungen der Freiheit als Willkür oder Zufall).9

Freiheit des Menschlichen Handelns als bewußt gewollte Verwirklichung vernünftiger Zwecke

So stellt sich das Handeln (“Tun”) der Menschen in der Notwendigkeit, das sittlich Vernünftige zu tun, was ihrer Freiheit nicht widerspricht, sondern diese im Gegenteil verwirklicht, als Bewußtsein ihrer Freiheit in der Enzyklopädie im Zusatz zu §158 bei Hegel so dar:

Der sittliche Mensch ist sich des Inhalts seines Tuns 8/303
als eines Notwendigen, an und für sich Gültigen bewußt
und leidet dadurch so wenig Abbruch an seiner Freiheit,
daß diese vielmehr erst durch dieses Bewußtsein
zur wirklichen und inhaltsvollen Freiheit wird,
im Unterschied von der Willkür
als der noch inhaltlosen und bloß möglichen Freiheit.

Das dürfte der Quelltext bei Hegel sein, der dem Pseudozitat im Sinn am Nächsten kommt, zumal hier auch die Drei Schlüsselbegriffe “Freiheit,” “Notwendigkeit” und “Bewußtsein” (was hier die Bedeutung von “Einsicht” mit einschließt) in einem Satz zusammen treffen10.

Freiheit im Objektiven Geist

Insofern wir dies natürlich nicht nur individuell machen, sondern gemeinsam in Gesellschaft immer mehr verwirklichen, so verwirklichen wir uns in der Gesellschaft/Kultur. Insofern wir dabei darin vernünftige Zwecke verwirklichen, ist die Vernunft in der Gesellschaft/Kultur verwirklicht, objektiviert (“Objektiver Geist”).

(Dies der Sinn des Zitates “Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.”, ich beabsichtige dazu ebenfalls noch einen Artikel in dieser Zitat-Prüf-Serie zu verfassen).

Insofern darf ich erwarten, dass ich in dieser “zweiten, menschengemachten Natur” des Objektiven Geistes eher mehr Vernunft finde (so wie sie von Menschen die vernüftige Zwecke verfolgen hineingesteckt wurde) als in der Natur.11

Rückbezug auf Engels Interpretation

Ich denke, dass die Interpretation, die Engels im Anti-Dührung, wie oben angeführt, gibt, insbesondere in Hinblick auf die Entdeckung und Anwendung der Naturgesetze und der Technik- und Menschheitsgeschichte, in der Tat soweit mit Hegels Intentionen kompatibel ist, dass er die Betonung darauf legt, dass wir für die Freiheit der Verfolgung unserer Zwecke auf unsere Mittel angewiesen sind, je besser wir die Wirklichkeit verstehen, destso besser können wir uns mit Hilfe unserer Kenntnisse und unserer dementsprechend entwickelter Mittel gegen die Gefahren und Zufälligkeiten der Natur wappnen und destso besser können wir unsere Zwecke verfolgen.

Dieser wichtige Teilaspekt ist sehr schön detailiert und verständlich von Engels ausführt.

Allerdings sind die anderen Konsequenzen aus Hegels Konzeption, sowohl in Bezug auf die logische Grundlage (s.o.), als auch in Bezug auf die Prüfung, welche Zwecke denn da verfolgt werden (s.u.) in dem zitierten Abschnitt aus dem Anti-Dühring außer Acht gelassen.

Handeln in gewußter Vernünftigkeit der Zwecke - Harmonie der Seele und Prüfung ihrer Vernünftigkeit

Einsicht in die vernünftige Notwendigkeit als Gut für das seelische Gleichgewicht

Die Wirklichkeit des objektiven Geistes ist das Ergebnis der Verwirklichung meiner - hoffentlich - vernünftigen Zwecke in meine Taten und aller in der Gesellschaft der Vergangenheit und Gegenwart. h In diesem Sinne geht der genannte Zusatz zu §147 daher später so zu Ende:

[…]
so kann hier noch bemerklich gemacht werden, von welcher Wichtigkeit es ist,
daß der Mensch das, was ihn trifft, im Sinne jenes alten Sprichwortes auffaßt,
worin es heißt: ein jeder ist seines eigenen Glückes Schmied.
Hierin liegt, daß der Mensch überhaupt nur sich selbst zu genießen bekommt.

Die entgegengesetzte Ansicht ist dann die,
daß wir die Schuld von dem, was auf uns fällt,
auf andere Menschen, auf die Ungunst der Verhältnisse
und dergleichen schieben.
Dies ist dann wieder der Standpunkt der Unfreiheit
und zugleich die Quelle der Unzufriedenheit.

Indem dagegen der Mensch anerkennt, daß, was ihm widerfährt,
nur eine Evolution seiner selbst ist
und daß er nur seine eigene Schuld trägt,
so verhält er sich als ein Freier
und hat in allem, was ihm begegnet,
den Glauben, daß ihm kein Unrecht geschieht.

Der Mensch, der in Unfrieden mit sich und seinem Geschick lebt,
begeht gerade um der falschen Meinung willen,
daß ihm von anderen Unrecht geschehe, viel Verkehrtes und Schiefes.

Nun ist zwar in dem, was uns geschieht, allerdings auch viel Zufälliges.
Dies Zufällige ist indes in der Natürlichkeit des Menschen begründet.

Indem der Mensch aber sonst das Bewußtsein seiner Freiheit hat,
so wird durch das Mißliebige, was ihm begegnet,
die Harmonie seiner Seele, der Friede seines Gemüts nicht zerstört.

Es ist also die Ansicht von der Notwendigkeit,
wodurch die Zufriedenheit und die Unzufriedenheit der Menschen
und somit ihr Schicksal selbst bestimmt wird.

Zweifellos wird der Inhalt des Zitates manchem Anhänger moderner Psychotherapie bzw. Selbsthilfe bekannt vorkommen und die Wahrheit sowohl des Unglücks der Unzufriedenheit wie auch der Seelenruhe des sich aufgehoben fühlens ist nicht zu verleugnen. Ähnliches haben auch schon Stoiker und Buddhisten gedacht.

Es käme allerdings auch darauf an, zu prüfen, ob diese “Harmonie seiner Seele, der Friede seines Gemüts” gerechtfertigt ist.

Prüfung der Vernünftigkeit der Wirklichkeit

Wenn die Wirklichkeit in unserer Wahrnehmung unvernünftig ist, so muss das nicht an der Wirklichkeit liegen, sondern kann auch an unserem Unvermögen liegen, deren Vernunft zu erkennen.

Allerdings ist an die obige Erkenntnis aus der Logik zu erinnern: daraus, dass die Notwendigkeit in der Freiheit aufgehoben ist aber nicht umgedreht, folgt auch, dass nicht alles, was notwendig ist, auch Freiheit beinhaltet (oder nützlich für meine Freiheit oder Ausdruck meiner Freiheit) ist.

Daher ist auch noch nicht alles, was existiert12, auch vernünftig, wie auch Hegel selbst hinweist13.

Hegel weist zudem darauf hin, dass es heute allerdings nicht damit getan ist, wie früher als alles, als Gottgegeben, Schicksal oder angeblich “vernünftig,” unkritisch anzunehmen (und sei es auch nur weil es, wie es heutzutage z.B. im “positiven Denken” nahegelegt wird, der Psyche gut täte), vielmehr ist es ein Prinzip der Moderne, dass heute die kritischen Menschen selbst die tatsächlichen Vernünftigkeit der Welt prüfen und sich davon überzeugen wollen (ein Prinzip, einmal in der Welt, hinter dem nicht zurück geschritten werden kann).

Hegel stellt dazu in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie (TWA Bd.20, S.119) anlässlich der Behandlung Descartes fest:

Es ist das Denken frei für sich, was gelten soll, was anerkannt werden soll;
dies kann es nur durch mein freies Denken in mir,
nur dadurch kann es mir bewährt werden.
Dies hat zugleich den Sinn,
daß dies Denken allgemeines Geschäft,
Prinzip für die Welt und die Individuen ist:
das, was gelten, was festgesetzt sein soll in der Welt,
muss der Mensch durch seine Gedanken einsehen;
was für etwas Festes gelten soll,
muss sich bewähren durch das Denken.

[Und wenn man überlegt, wie denn die Weltgeschichte als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit aufzufassen ist und wie gewährleistet ist, dass diese sich mit der Zeit immer mehr verwirklicht, so ist klar, dass Transparenz, die Möglichkeit der Überprüfung und die kritische Prüfung der Wirklichkeit und unserer Zwecke selbst, wie sie etwa mit den Prinzipien und Institutionen der Demokratie, Presse- und Meinungsfreiheit, Unabhängigkeit der Justiz etc. in der Moderne herausgearbeitet wurden, hierzu wichtige Grundsteine sind, die hierzu verteidigt und ausgebaut werden müssen].

Prüfung der Vernünftigkeit der Zwecke, die verwirklicht werden im Absoluten Geist

Man kann und sollte nun, wenn man schon kritisch prüft, nicht nur die Wirklichkeit danach prüfen, ob sie denn die vernünftigen Zwecke auch verwirklicht (und wie hier ggfs.Abhilfe geschaffen werden kann), sondern insbesondere auch darauf, ob die Zwecke, die verwirklicht werden, die man selbst vermutlich teilt und für gut befindet, denn auch tatsächlich vernünftig sind und nicht etwa selbst zeitgebundene Mängel beinhalten.

Gliederung Geist

Das Erkennen dessen und das Reflektieren darüber, welche Zwecke wir denn mit den so verstandenen Mitteln verwirklichen, ist Gegenstand des Absoluten Geistes bei Hegel (Weswegen auch Kunst-, Religions- und Wissenschaftsfreiheit wichtig sind). Ich habe versucht dies in diesem Text näher darzustellen (der Text muss diese Tage auch noch klarer überarbeitet werden, der zweite Teil des Artikels ist etwas klarer):

Unzureichende Behandlung dieses Aspektes bei Engels und im “historischen Materialismus”

Dies ist ein Aspekt, der im Anti-Dühring und im klassichen marxistischen “Historischen Materialismus” und den von ihm direkt oder indirekt beeeinflussten Autoren unzureichend behandelt wurde, da der “absolute Geist” (Kunst, Religion, Philosophie) dort in erster Linie unter dem Blickwinkel des “Überbaus”14 rezipiert wurde, also als “in letzter Instanz zu erklären” aus dem sozioökonomischen “Unterbau”15.

Einen Versuch, die Marx-Engelschen Konzeption der Freiheit durch die Erkenntnis der Gesetze der äusserlichen (und inneren) Gegebenheiten und ihrer Ausnützung (ihrer Anwendung als Mittel meiner Zwecke in Technik usw.) mit der Reflektion über diese Zwecke/Ziele/Maßstäbe selbst zu verbinden, habe ich in diesem Text gegeben:

Bibliographie

Bieri, Peter. 2001. Das Handwerk der Freiheit: Über die Entdeckung des eigenen Willens.
Güssbacher, Heinrich. 1988. Hegels Psychologie der Intelligenz. Würzburg: Königshausen & Neumann.
Hösle, Vittorio. 1988. Hegels System. Ungekürzte Studienausgabe. Hamburg: Felix Meiner Verlag.
Peperzak, Adriaan. 1991. Hegels praktische Philosophie: Ein Kommentar zur enzyklopädischen Darstellung der menschlichen Freiheit und ihre objektiven Verwirklichung. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog.
Schlemm, Annette. 2012. “Was vernünftig ist, das ist wirklich….” January 2012. https://philosophenstuebchen.wordpress.com/2012/01/22/verstand-vernunft-4/.
———. 2015a. “Vernünftige Wirklichkeit – wirkliche Vernunft.” January 2015. https://philosophenstuebchen.wordpress.com/2015/01/03/vernuenftige-wirklichkeit-wirkliche-vernunft/.
———. 2015b. “Vernünftig und wirklich.” November 2015. https://philosophenstuebchen.wordpress.com/2015/11/18/hegel_gpdr_6/.

  1. Erstmals Online gestellt am 7.10.2020. Die Version vom 15.10. berücksichtigt das meiste wertvolle Feedback von Annette Schlemm, die zu vielen der Themen in diesem Artikel auf http://www.annette-schlemm.de/hegel/hegel.htm wertvolle Artikel bereit stellt. Vielen Dank dafür!↩︎

  2. Weil das Zitat von Engels kommt, im ehemaligen “realexistierenden Sozialismus” weit verbreitet war und zumindest in der älteren Generation in Ostdeutschland im Gedächtnis geblieben ist, werde ich in diesem Artikel auch auf die Parallelen und Unterschiede in der Konzeption von Hegel und dem DDR-Marxismus in der Interpretation dieses Zitates eingehen.↩︎

  3. MEW Bd.20, S.106↩︎

  4. TWA=Theorie Werk Ausgabe, die 20bändige Ausgabe der hegelschen Werke von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel bei Suhrkamp. Die Suhrkampausgabe basiert auf der jeweils letzten Auflage der ersten Werksausgabe der “Freunde des Verewigten,” in diesem Fall also Bd.6 der Freundesausgabe, 2.Auflage von 1843. Die Suhrkampausgabe ist als Taschenbuchausgabe relativ preiswert und leicht erhältlich und ist daher seit ihrem Erscheinen 1970 diejenige Ausgabe, aus der im deutschen Sprachraum in der Regel zitiert wird. In den letzten Jahren wird in wissenschaftlichen Veröffentlichungen allerdings stattedessen zunehmen aus der Hegel Gesamtausgabe des Hegelarchivs zitiert.↩︎

  5. Deshalb gab es im Marxismus-Leninismus so reduzierte Dialektikvorstellungen. Sie beschränkten sich ja i.a. auf die auch noch ontologisierte Seins- und Wesenslogik. Die “vollständige” Dialektik braucht man deshalb vor allem in der Gesellschaftstheorie, wo sie aber im ML nicht vorhanden war (tragisch nachdem es dem ML doch gerade insbesondere um diese ging). Ausnahmen wären z.B. die von Camilla Warnke geschriebenen und herausgegebenen Schriften.↩︎

  6. In den Worten von Hegels frühen Nürnberger Enzyklopädie, die er für seine Gymnasialschüler schrieb, während er noch an seiner Logik und seinem System arbeitete: https://hegel-system.de/de/v0logik_real.htm. Mit dem Verhältnis von Logik und Realphilosophie beschäftigt sich Hösle ausführlich in (Hösle 1988). Eine Reflektion meiner damaligen (ca.2000) Lektüre zu dem Thema findet sich in https://hegel-system.de/de/logik_und_realphilosophie.htm↩︎

  7. letzteres ausführlich besprochen bei (Güssbacher 1988), Inhaltsverzeichnis.↩︎

  8. Siehe dazu Hegels Ausführungen der Sequenz des theoretischen, praktischen und freien Geistes in seiner Psychologie. Die letzten beiden Teile sind Satz für Satz kommentiert in (Peperzak 1991). Das Buch behandelt sehr gut und Wort für Wort die Paragraphen 469-552 der Enzyklopädie)↩︎

  9. Das ist schön ausführlich und verständlich dargestellt in (Bieri 2001)↩︎

  10. Der Hinweis auf Enz. §158 und speziell des markierten Satzes kommt von Lutz Hansen.↩︎

  11. Vor dem Hintergrund ist mit Recht zu kritisieren, wenn das menschliche Tun in Mittel und Zweck hinter der Natur zurück bleibt, gar schlechtere/schädlichere Resultate liefert. Wenn z.B. die Natur es schafft, keinen Abfall bei ihren Prozessen zu produzieren, sondern alles 100% wiederzuverwerten, dann sollte das der Mensch erst recht können und umsetzen.↩︎

  12. Annette Schlemm hat in (Schlemm 2015a) auf den Unterschied der hegelschen Fachterminologie von Sein, Dasein, Existenz, Wirklichkeit usw. hingewiesen (der sowohl in Hegels Vorlesungen, wie auch in meinen im Alltagsdeutsch geschriebenen Artikeln nicht immer streng beachtet wird, die gemeine Beduetung ist aber jeweils aus dem Zusammenhang zu erschliessen).↩︎

  13. Annette Schlemm hat die interessanten verschiedenen Variationen dieses Zitats in Hegels Vorlesungen in (Schlemm 2012, 2015b) dokumentiert.↩︎

  14. “[Es zeigte sich] daß also die jedesmalige ökonomische Struktur der Gesellschaft die reale Grundlage bildet, aus der der gesamte Überbau der rechtlichen und politischen Einrichtungen sowie der religiösen, philosophischen und sonstigen Vorstellungsweise eines jeden geschichtlichen Zeitabschnittes in letzter Instanz zu erklären sind.“ Anti-Dühring. Einleitung. 1878. MEW Band 20, S. 25. Diskussion mit weiteren Belegen z.B. im Basis-Überbau Artikel bei Wikipedia↩︎

  15. Man könnte ganze Bibliotheken mit Büchern füllen in denen marxistisch inspirierte Autoren, vor allem aus dem ehemaligen “real-existierenden Sozialismus,” Kunst, Religion oder Philosophie danach darstellen, inwiefern diese Ausdruck der sozio-ökonomischen Verhältnisse sind, ohne ansonsten den eigentliche Inhalt des jeweiligen Kunstwerkes, Religion oder Philosophie selbst mit genügender Aufmerksamkeit “für sich” darzustellen. Es handelt sich dabei nicht nur um einen anderen Schwerpunkt aufgrund einer anderen Sichtweise, sondern letzteres wurde vielmehr ausdrücklich als “bürgerlich” abgelehnt. Es dürfte sich dabei um eine Variante des Fehlers der Verwechselung von Genese und Geltung handeln.↩︎